„Die nationale Kultur ist nicht jene Folklore […] Die nationale Kultur ist die Gesamtheit der Anstrengungen, die ein Volk im geistigen Bereich macht um die Aktion zu beschreiben, zu rechtfertigen und zu besingen, in der es sich begründet und behauptet hat. In den unterentwickelten Ländern muss sich die nationale Kultur also ins Zentrum des Befreiungskampfes selbst stellen.“ (Fanon 1969: 178)
Nationale Kultur, Volkskultur, Fund und Erfindung
Der 1925 in Martinique geborene Frantz Fanon gilt als einer der Begründer postkolonialer Theorie, sein Werk „Die Verdammten dieser Erde“ beschäftigt sich mit den Auswirkungen kolonialer Herrschaft und dessen erfolgreiche Überwindung. Oftmals wurde Fanon wegen seiner Progressivität kritisiert, seine Analyse kolonialer Herrschaft erläutert der studierte Psychologe jedoch präzise und ergreifend gleichermaßen. Einen zentralen Stellenwert im Kontext des Befreiungskampfes nimmt die Frage der Genese eines nationalen Bewusstseins ein. Damit verbunden ist die Suche nach einer eigenen „nationalen Kultur“. (vgl. Ashcroft, Griffiths 1998: 153) Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der nationalen Kultur weist ein Naheverhältnis zum „Volkskulturbegriff“ auf. Dieser befindet sich im Spannungsfeld zwischen „Fund und Erfindung“, zwischen der Suche nach Authentizität und Instrumentalisierung. Die damit verbundene negative Konnotation verweist auf den ausgrenzenden, gefährlichen Charakter der Auffassung einer nationalen Kultur. (vgl. Hügel 2003: 154) Die Bezugspunkte sind dabei nicht von Bedeutung – egal ob Verfassungspatriotismus oder Kulturnation – der abgrenzende Charakter einer Nationalisierungsstrategie bleibt bestehen.
Ist der Begriff der nationalen Kultur bei Fanon deswegen exklusiv und problematisch?
Eine gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Konzept des „Thrid Space“ bzw. der Hybridität bei Homi Bhabha soll dieser Frage nachgehen.
Westliche Kultur und Erlösung
„Der Kolonialismus versuchte also, sich dem Unbewußten der Eingeborenen nicht als eine gütige und wohlwollende Mutter einzuprägen, die das Kind vor einer feindlichen Umgebung schützt, vielmehr als eine Mutter, die ein völlig perverses Kind ständig daran hindert sich das Leben zu nehmen und seinen unheilvollen Trieben freien Lauf zu lassen. Die koloniale Mutter schützt das Kind vor sich selbst, vor seinem Ich, seiner Physiologie, seiner Biologie, seinem ontologischen Unglück.“ (Fanon 1969: 161)
Der Kampf gegen den „kolonialen Manichäismus“ (vgl. Fanon 1969) ist geprägt von einem konstruierten negativen Selbstbild der Kolonisierten, das durch die imperialistische Durchdringung der autochtonen Gesellschaft geschaffen worden ist. Unter seinem Tropenhelm behauptete ein „zivilisierter“ europäischer Kopf die „Errungenschaften“ eines so genannten Humanismus in die Herzen barbarischer Eingeborener zu bringen. Tatsächlich war das Ergebnis dieser immanent rassistischen Position die Rechtfertigung für Ausbeutung und Vernichtung. Die große Gefahr jener kolonialen Programmatik war, dass der Kolonialismus nicht nur eine Befreiung von einer „selbstverschuldeten Unfähigkeit“ verspricht, sondern auch die präkoloniale Vergangenheit herabwürdigt bzw. schlichtweg ignoriert. Damit wird jegliches Verständnis einer eigenständigen Identität ausgelöscht, die Kolonisierten werden sozusagen entmenschlicht, es gab vor der kolonialen Herrschaft keine Vergangenheit. Gleichzeitig findet eine Aufwertung der imperialistischen Kultur statt – die erlösende Geste der Kolonialherren hat ihr Fundament in der Ignoranz indigener Kultur. Damit wird ein starrer, nativistischer und rassistischer Kulturbegriff legitimiert. Die Auffassung der kulturellen Überlegenheit und der damit verbundenen erzieherischen Funktion westlicher Zivilisation bestimmt bis heute die „Entwicklungsdiskurse“ sowie das Handeln einzelner Großmächte inklusive multinationaler Konzerne. Auf diese Weise werden so genannte humanitäre Interventionen gerechtfertigt, sozial-ökologisch katastrophale Megaprojekte umgesetzt und schlussendlich neue Märkte erschlossen. Diese Auffassung korelliert mit Bhabhas Verständnis kultureller Differenz und legitimiert den wertenden Diskurs rund um nationale Kultur bis heute. (vgl. Bhabha 2006)
Die Dekonstruktion von Kultur: Homi Bhabhas „Third Space“
Bhaba beruft sich in seinen Ausführungen auf die Diskrepanz zwischen einem „subject of proposition“ und einem „subject of enunciation“. Diese Annahmen basieren auf dem Subjektbegriff bei Jaques Lacan, der zwischen dem grammatikalischen Subjekt im Satz (=sujet de l’énoncé / Subjekt der Aussage) und dem Subjekt als Person hinter der Aussage unterscheidet. (=sujet de l’énonciation / Subjekt des Aussagens) (vgl. Lacan Online 2013) Anhand dieser Differenz lässt sich die Schwebe des Kulturbegriffs herauslesen: Dadurch dass auf der einen Seite ein Subjekt der Aussage existiert, das zu einer mittelbaren Äußerung in Beziehung steht und andererseits einem Subjekt des Aussagens, das in den Diskurs eingebettet ist bzw. diesen mitbestimmt. Bhabha argumentiert, dass eine Aussage niemals nur ein Transfer von sprechenden Subjekt zur RezipientIn ist, sondern ebenso abhängig von einem – in irgendeiner Form vorhandenen – Subjekt des Aussagens, das den gesamten Diskurs rahmt. Eine Interpretation der Aussage ist von nunmehr zweierlei Sphären abhängig, die einen „Third Space“ benötigen und dort ausgehandelt werden. In diesem Raum wird Bedeutung sowohl durch das Subjekt des Aussagens als auch durch das Subjekt der Aussage immer wieder neu kreiert. Sowohl der performative Akt als auch das Subjekt des Aussagens finden im „Third Space“ zusammen. (vgl. Bhabha 2011) Für den Begriff der (nationalen) Kultur hat diese sprachwissenschaftliche Betrachtungsweise zur Konsequenz, dass der Raum der Kultur als wandelbar, interaktiv und beeinflusst durch ein Subjekt des Aussagens verstanden werden muss. Kultur ist niemals lediglich Tradition oder Nation sondern eine dynamische Form, die im „Third Space“ von zahlreichen Einflüssen bestimmt wird. Darüber hinaus bezieht sich Bhabhas Auffassung von Hybridität bzw. hybride Identitäten auf Subjekte, die zwischen den vorgegebenen kulturellen Räumen existieren und einen permanenten Austausch vollziehen – sie sind die HauptdarstellerInnen des „Third Space“. Diese Herangehensweise dekonstruiert einen starren Kulturbegriff – die Frage (nationaler) kultureller Identität ist dieser Logik folgend abhängig von Kontext, Raum und Zeit. Im „Third Space“ wird die Voraussetzung geschaffen für eine neue Artikulation kultureller Differenz, die eine nationale Identität begründet und ihre Ambivalenz verdeutlicht. (vgl. Sexl 2004: 283) Im „Third Space“ wird die Bedeutung kultureller Zeichen losgelöst von ihrem Ursprung.
Nationale Kultur und Widerstand bei Fanon
„Der Befreiungskampf gibt der nationalen Kultur nicht ihren alten Wert und ihre früheren Konturen wieder: er strebt eine grundsätzliche Neuordnung der Beziehungen zwischen den Menschen an und kann daher weder die Formen noch die Inhalte der Kultur unberührt lassen. […] Diese neue Menschlichkeit […] kann nicht umhin einen neuen Humanismus zu definieren, der in den Zielen und Methoden des Kampfes vorgezeichnet ist.“ (Fanon 1969: 188)
Die Entwicklung einer nationalen Kultur bedeutet bei Fanon eine oppositionelle Reaktion auf koloniale Machtverhältnisse. Durch die Erfindung einer eigenständigen, unabhängigen und ebenbürtigen Identität soll die totalitäre Realität der kolonialen Welt aufgebrochen werden. Bei Fanon ist dieser exklusive, abgrenzende Charakter des nationalen Kulturbegriffs nicht Problematik sondern Notwendigkeit, um der binären Logik des Kolonialismus eine Alternative entgegenzustellen zu können. Die Entwicklung nationaler Kultur folgt grundsätzlich zwei Strängen, einerseits ist die Berufung auf ein vergangenes Goldenes Zeitalter von Bedeutung und andererseits der unmittelbar stattfindende nationale Befreiungskampf. Fanon bemerkt, dass es die Lebensrealität eines mexikanischen Bauern zwar kaum ändert, ob er über die Existenz einer aztekischen Zivilisation Bescheid weiß oder nicht, jedoch ist die Suchbewegung nach einer „invention of tradition“ zentral für eine kollektive Identität. (vgl. ebd. 153f.) Darüber hinaus ist die Beschäftigung mit der eignen präkolonialen Vergangenheit Fundament für ein wiederzuerlangendes Selbstbewusstsein und eine Triebfeder für den nationalen Befreiungskampf. Damit wird ein Counter-Narrativ geschaffen. Die Erfindung oder Wiederentdeckung einer präkolonialen Vergangenheit reicht jedoch zur Beseitigung des kolonialen Manichäismus nicht aus – hier kommt die dynamische Komponente des fanon’schen Kulturbegriffes zu tragen: Der Befreiungskampf selbst generiert nationale Kultur, der Prozess der Beseitigung kolonialer Repression durch den Widerstand formt dessen Ausrichtung. Daraus ergibt sich eine variable und bewegliche Auffassung eines Kulturbegriffes – die Widerstandskämpferin hat aktiv an der Gestaltung nationaler Kultur teil.
Die nationale Elite ist gespalten zwischen einer den Kolonialherren hörigen „comprador-class“ (Ashcroft, Griffiths, Tiffin 2000: 54) und einer revolutionären Intelligenzija. Erstere schafft es nicht aus dem kolonialen Manichäismus auszubrechen, sondern bleibt in dessen Strukturen verhaftet indem man den kolonialen, nativistischen Kulturbegriff akzeptiert. (vgl. ebd.) Die radikalen Intellektuellen hingegen sehen ihre Aufgabe im Transport der „nationalen Idee“ an die Bevölkerung – zumeist mittels literarischer Tätigkeit. Fanon spricht erst dann von nationaler Literatur, wenn die Adressatin explizit die eigene Bevölkerung ist und nicht die (neo)koloniale Elite. (vgl. Ashcroft, Griffiths 1998: 156) Diese Literaturschaffenden erzeugen nationales Bewusstsein – ihre Inhalte sind geprägt vom Kampf um die Befreiung von der kolonialen Herrschaft.
Bei Fanons Befreiungskampf spielt jener hervorbrechende Moment – die „magische Unsicherheit“ – des Auflehnens gegen die bestehende Ordnung eine zentrale Rolle. In jenem Moment würde der Raum geschaffen für eine neue Aushandlung nationaler Identität bzw. eine neue Auffassung kultureller Differenz im Gegensatz zu kultureller Diversität. Die treibende Kraft dabei ist eben jene nationale Intelligenzija, deren eigene Identität hybrid ist, d.h. die sich zwischen den kolonialen, manichäischen Welten bewegen. Diese steht in Opposition zu einer „unterentwickelten“ Bourgeoisie, die eine Auffassung kultureller Diversität vertreten – und damit ein Verständnis eines starren, deterministischen Kulturbegriffs. Jene hybriden Identitäten spielen bei der Konstruktion einer eigenen, postkolonialen, nationalen Kultur die wesentlichste Rolle und nutzen den „Third Space“ um kulturelle Differenz zu artikulieren. Sie brechen damit den kolonialen Manichäismus auf, der von einer abwertenden kulturellen Diversität ausgeht.
Fanons Kulturbegriff und seine Aktualität
Eine wesentliche Rolle nehmen bei Fanon die Geschichtenerzähler ein, die einerseits einen Zusammenhang mit der präkolonialen Vergangenheit herstellen, sowie die Idee des nationalen Befreiungskampfes kanalisieren. Die heutigen GeschichtenerzählerInnen sind hybride Identitäten urbaner Kulturen wie etwa MusikerInnen, SchreiberInnen von Blogs und AktivistInnen in alternativen Medien. Diese versuchen die „Literatur des Kampfes“ weiter voranzutreiben und ein Abdriften in andere, reaktionäre Bezugssysteme zu verhindern.
Das bemerkenswerte an Fanons Ausführungen ist die Möglichkeit eine Diskussion des nationalen Kulturbegriffs über eurozentristische Sinnhorizonte hinweg zu führen. Dabei charakterisieren diesen vor allem die unterschiedlichen Pole seiner Definition: einerseits schafft die Bezugnahme auf eine vorkoloniale Geschichte eine Alternative zur entmenschlichten kolonisierten Identität und damit ein kollektives Gedächtnis. Andererseits grenzt sich der Begriff vor allem unter Bezugnahme auf Bhabhas Hybriditätskonzept bzw. auf den „Third Space“ vom Herder’schen Kulturverständnis ab, indem er die ProtagonistInnen des Befreiungskampfes als Kulturschaffende versteht. Somit wird Kultur als eine prozesshafte, sinngebende und veränderbare Konstruktion begriffen, die im „Third Space“ interaktiv konstruiert wird. Kritisch zu hinterfragen ist, was nach der Revolution mit dem Begriff der nationalen Kultur passiert und wie eine Hybridisierung des Kulturbegriffs politisch umsetzbar ist – auch bezugnehmend auf die Entwicklungen in Algerien nach seiner Unabhängigkeit. Versteht man Kultur als hybrid, offen und dynamisch verliert der Begriff möglicherweise seinen ausgrenzenden Charakter, allerdings bleibt die Frage der Umsetzung einer globalen, hybriden Vorstellung von nach wie vor offen – und wird es auch bleiben, solange damit Eigeninteressen einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen verbunden bleiben. Währenddessen ist das Ziel Bhabhas Hybriditätskonzept die Konstruktion einer egalitären Kultur, die ihren Ursprung in der Differenz findet.
Literatur
- Ashcroft, Bill, Griffiths, Careth, Tiffin, Helen (2000): Post-Colonial Studies. The Key Concepts. Second Ed. London, New York: Routhledge.
- Bhabha, Homi (2006): Cultural Diversity and Cultural Differences. Online: http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformation/html/c/cultural-diversity/cultural-diversity-and-cultural-differences-homi-k-bhabha.html [Zugriff: 15.04.13].
- Fanon, Frantz (1969): Die Verdammten dieser Erde. 2. Auflage. Hamburg: Rowolth.
- Fanon, Frantz (1968): National Culture. In: The Post-Colonial Studies Reader. London, New York: Routhledge 153-157.
- Hügel, Hans-Otto (2003) (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Stuttgart, Weimar: Metzler.
- Lacan Online (2013): Three Ways To Understand The Subject Of The Statement And The Subject Of The Enunciation. http://www.lacanonline.com/index/2011/05/three-ways-to-understand-the-subject-of-the-statement-and-the-subject-of-the-enunciation/ [Zugriff: 15.04.13].
- Sexl, Martin (Hg.) (2004): Einführung in die Literaturtheorie. Wien: WUV: 256-285.