Die Sorgen der Bevölkerung ähneln jenen in anderen arabischen Ländern: Wenige haben sehr viel Geld, viele haben wenig oder gar nichts. Einer, der Arbeit hat und Lohn bezieht, ernährt ganze Großfamilien – bis zu vier Generationen. Und jenen, die am System teilhaben, wird Korruption zur Last gelegt. Insbesondere einige Personen aus der engsten Entourage von König Mohammed VI. entzünden den Unwillen des Volkes, ebenso Abgeordnete, Minister und die Regierung überhaupt, die aus zu vielen Mitgliedern der mächtigen alten Familien aus Fes besteht. Ihnen wird vorgeworfen, ihre Ämter im Wesentlichen zur persönlichen Bereicherung und Versorgung der jeweiligen Hausmacht zu missbrauchen.
Dagegen wehren sich nun die Habenichtse. Am 20. Februar marschierten die ersten Demonstranten in allen großen und größeren Städten. Leider eskalierte es in Al-Hoceima, einem Ferienort an der Mittelmeerküste. Die Folge waren fünf Tote und ein landesweiter Schock. Seither starren die Marokkaner gebannt auf die Fernsehnachrichten und die Entwicklungen in der Arabischen Welt, schwankend zwischen Entsetzen und der Hoffnung, dass die revolutionäre Woge an ihnen vorüberziehe. Ägyptische, tunesische, libysche Verhältnisse, ein Umbruch gar, der Sturz des Monarchen – solche Szenarien sind hier unvorstellbar.
Nach den ersten Aufregungen, Manifestationen und Opfern hieß es aus dem Palast, man habe die Botschaft empfangen. Seither tröpfelt nicht stetig, aber regelmäßig Manna aus königlichen Schatullen auf die Untertanen, Erhöhung von Subventionen da und dort, Erhöhung der Pensionen, der Beamtengehälter, der Mindestlöhne, Begnadigung von Gefangenen.
Aber jetzt wollen die Empörten keine Brosamen mehr vom Tisch der Reichen, keine königlichen Almosen regelmäßig zu den Feiertagen ungleichmäßig aufs Volk geträufelt. Jetzt wollen sie Rechte. Sie wollen nur das, was ihnen zusteht. Sie wollen die Früchte ihrer Arbeit ernten, ein menschenwürdiges Leben führen, mitbestimmen und mitgestalten. Sie wollen Abgeordnete wählen, die tatsächlich Volkes Wille repräsentieren und Gesetze machen und nicht bloß das unterzeichnen, was seine Majestät anordnet.
So gaben sie sich den Namen »Bewegung des 20. Februar«, gründeten Webseiten und Facebookgruppen und eröffneten Twitterkonten. Sie sind jung, gebildet, urban, häufig links orientiert, häufig arbeitslos, männlich und weiblich, Araber und Berber, und sie haben Zeit. Sie schicken Herolde mit Megaphonen in die dicht besiedelten Stadtteile, mobilisieren die Unpolitischen auf den Märkten und in den Fabriken und organisieren allsonntäglich Demonstrationen. Blitzartig schlossen sich ihnen Gruppen aus der breiten gesellschaftlichen Mitte an, Linksparteien, Gewerkschaften und Islamisten, die legalen und die illegalen.
Linke und Islamisten Hand in Hand, Links-außen gemeinsam mit Rechts-außen, das gehört zu den Besonderheiten Marokkos, ebenso, dass selbst die Islamisten für Demokratie streiten, die gerade ihre letzte Chance wittern, nicht in die Bedeutungslosigkeit abzusacken. Und sie wollen nichts zu tun haben mit jenen geschätzten rund 400 Gewaltbereiten, ob sie sich nun Muslimbrüdern, Salafisten, Al-Qaida im Maghreb (Aqim) oder sonstigen Gruppen zuordnen, die irregeleitet Verbrechen im Namen der Religion begehen. Solche Leute werden mit Abscheu betrachtet, ihre Ideologien gelten als importiert, als unislamisch – Mord im Namen Allahs, damit wollen die allermeisten Marokkaner, gläubig oder nicht, praktizierend oder nicht, nichts zu schaffen haben.
Auch der Sonntag als Aktionstag ist so eine marokkanische Besonderheit, denn der wöchentliche Ruhetag ist hier nicht der Freitag, am Sonntag ist arbeitsfrei und schulfrei, Relikt aus der französischen Protektoratszeit, und deswegen wird sonntags marschiert.
Dann hielt der König am 9. März eine Rede ans Volk, flankiert von den zwei Thronfolgern, zu seiner Rechten der Sohn, der siebenjährige Moulay Hassan, zur Linken des Monarchen Bruder Moulay Rachid.[1. www.youtube.com/watch?v=9pTJoUI3W8s (Abfrage 13.7.2011).] Darin ebnete er in sieben Punkten den Weg zu Reformen und kündigte die Gründung einer Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung an. Drei Monate wurden ihr dafür eingeräumt.
Des Monarchen Wille geschah. Er bestimmte den Ablauf, den Zeitplan, die Akteure und letztlich auch den Inhalt. Zum Vorsitzenden ernannte er den Verfassungsjuristen Abdellatif Menouni, Lehrstuhlinhaber an der juridischen Fakultät in Rabat. In den folgenden Wochen wurden wesentliche gesellschaftliche Kräfte zu Diskussionen und Beratungen gebeten. Manche der Eingeladenen lehnten ab, Teile der jungen politischen Bewegung etwa, denn das sei kein demokratischer Prozess, da die Kommission ernannt und nicht gewählt sei.
Sanfte Revolution
Eine sanfte Revolution nennen die Marokkaner ihre Form der politischen Erneuerung (arab. thaura silmiya). Dass »Revolution« und »friedlich« Widersprüche sind, will hier niemand hören. »La révolution c’est moi«, titelte Telquel in seiner Ausgabe vom 22. April zu einem Bild vom König hinter seinem Thron stehend[2. www.telquel-online.com/470/index_470.shtml (Abfrage 8.7.2011).], in einer Anspielung auf Ludwig XIV, und das Wochenblatt, so eine Art marokkanisches Time Magazine, hat damit wieder einmal ins Schwarze getroffen.
Auf jeden Fall erleben die Leute gerade eine Revolution in ihren Köpfen. Da findet eine Dekolonisierung des Geistes statt: die Marokkaner entledigen sich des vielleicht schlimmsten Erbes aus der Zeit der französischen Herrschaft, nämlich des Bewusstseins der eigenen Minderwertigkeit. Sie besteht im Wesentlichen in der Bereitschaft, grundsätzlich alles, aber wirklich grundsätzlich alles schlecht zu finden, was marokkanisch ist. In der Praxis sieht das so aus: Marokkaner vertrauen viel eher einem Ausländer als einem anderen Marokkaner. Wenn jemand beispielsweise ein Haus zu vermieten hat, dann lieber an einen Ausländer, egal ob Europäer, Amerikaner, Araber, nicht nur, weil diese höhere Mieten zu zahlen in der Lage sind, sondern weil von vorneherein angenommen wird, dass sie pünktlich überweisen. Diese Ausländerfreundlichkeit kann hanebüchene Ausmaße annehmen. Da kann jemand zum Beispiel sagen: Bring mir ein Nokia aus Österreich mit, die funktionieren besser als die marokkanischen. Alles ist schlecht, minderwertig, mangelhaft in Marokko, schlecht sind die Straßen, die Industrieprodukte, die Schulen und die Krankenhäuser sowieso. Ärzte führen auf Türschildern und Visitenkarten die europäische oder nordamerikanische Universität an, an der sie ausgebildet wurden – das schafft schon einmal Patientenvertrauen. Die allgemeine Ablehnung der Marokkaner von allem Marokkanischen war gängige Praxis, Allgemeingut bis vor kurzem. Seit dem Sturz Ben Alis und Mubaraks hat ein Umbruch in den Köpfen stattgefunden. Die Leute sehen, dass die Bevölkerungen in anderen Ländern sich auf die Füße stellen, Initiative ergreifen, dass sie etwas erreichen. Und sie sehen, dass Ohnmacht überwunden werden kann. Es wird viel nachgedacht in diesen Monaten und viel diskutiert.
Laut Forbes hat M6 knapp kalkulierte Haushaltsführungskosten von rund einer Million Dollar täglich in seinen zwölf Palästen. Und 2009 stieg sein Vermögen innerhalb eines Jahres dank Phosphatpreiserhöhungen um eine Milliarde US-Dollar.[3. Pendleton, Devon: King Of Rock, 17. 6. 2009; www.forbes.com/2009/06/17/king-morocco-phosphate-business-billionaires-royal-conflict.html (Abfrage 23.8. 2011).] All das wissen die Marokkaner. Aber sie sagen auch: Mir geht es heute besser als vor zehn Jahren, ich habe eine eigene Wohnung, ein Telefon, ich kann meine Stromrechnung bezahlen, ich spare jetzt auf ein Auto. Der König gilt als Läufer, er läuft, wenngleich man das seiner korpulenten Statur in den stets zu knapp sitzenden Anzügen nicht ansieht, er macht seine Arbeit, er hat viel bewegt, er tut, was er kann. Nicht einmal, dass seine Frau, Prinzessin Lalla Selma im April auf der britischen Hochzeit die adeligen Kontakte pflegte, einen Tag nach dem Anschlag in Marrakesch mit 17 Toten, wurde als Respektlosigkeit gegenüber den Opfern kommentiert.
Die Leute wünschen sich von ihrem König nur, dass er sie vor libyschen, syrischen jemenitischen Verhältnissen bewahre, vor Krieg, Bürgerkrieg, Blutvergießen. Das ist seine Aufgabe, vielleicht die wichtigste seiner Regentschaft, wenn ihm das gelingt, bei gleichzeitiger Umverteilung von Wohlstand und Einfluss von einzelnen auf alle, dann hat er gewonnen.
Des Monarchen Wille geschehe.
Hierin liegt wohl auch der größte Unterschied zu den anderen arabischen Ländern. Seine Legitimation bezieht der Monarch aus seiner Herkunft. Die Dynastie der Alaouiten wird zurückgeführt bis auf die Person des Prophetenenkels Hassan. Er ist sozusagen legitimiert von oben. Das ist vornehmster uralter Adel, und Adel verpflichtet. Der König haftet mit seiner Person für das Wohlergehen des Volkes. Auch Hassan II., sein Vater und Vorgänger, dessen Epoche man nun die bleiernen Jahre nennt, hat immer darauf geachtet, dass das Volk genug Brot und genug Spiele hatte.
Die Oberen müssen nur ein wenig von dem abgeben, was sie selbst haben, dann ist alles in Ordnung, sagen gelernte marokkanische Pragmatiker, ein wenig vom Geld und ein wenig von der Macht. In diesem Frühling geht es nicht mehr nur um Brot, es geht auch um Würde. Viele wollen eine parlamentarische Monarchie. Insbesondere die Artikel 19 und 23 der alten Verfassung (1996) erregten Unwillen: »Der König ist Führer der Gläubigen« und »Die Person des Königs ist unverletzlich und heilig«.
Aber allein diese Debatte war schon eine Revolution. Auf www.reforme.ma konnten alle mitreden. Dass man auf Facebookseiten und Transparenten solche Dinge verlangen kann, ohne sich kurz darauf im Gefängnis wiederzufinden, war noch vor einem Jahr undenkbar. Das kam Staatsverrat gleich. Ein Infragestellen dieser Passagen, das geht an die Substanz. Dabei geht es ums große Ganze.
Es ist auch nur vor dem revolutionären Hintergrund in der Arabischen Welt zu deuten, dass die Union der Arabischen Golf-Staaten (Gulf Cooperation Council) nun Jordanien und dann Marokko aufnehmen wollen.[4. http://gulfnews.com/news/gulf/saudi-arabia/gcc-studies-jordan-morocco-membership-bids-1.806159 (Abfrage 21.7.2011).] Die Monarchien rücken näher zusammen. Die reichen, aber autokratischen Mitgliedsländer (Bahrain, Kuwait, Oman, Qatar, Saudi Arabien, Vereinigte Arabische Emirate), die ihren Bevölkerungen demokratische Rechte, Frauenrechte und Menschenrechte vorenthalten können, weil sie ihnen das Leben versüßen, wollen um jeden Preis weitere Aufstände verhindern. Da ist man sogar bereit, Wohlstand zu exportieren. Es werden also im visum- und zollfreien Verkehr Subventionen, Investitionen und Touristen nach Westen rollen sowie Arbeitskräfte, Studenten und Exporte in den Osten. Das soll Marokko ökonomisch entlasten und zugleich die Basis für revolutionäre Umtriebe unterhöhlen.
Auch von der Öffnung der Grenze zwischen Algerien und Marokko, die seit 1994 geschlossen ist, ist seit Monaten die Rede. Die revolutionäre Luft bringt rivalisierende Nachbarn einander näher. Die beiden Staatslenker Bouteflika und Mohammed VI. höchstselbst haben sich in diesem Sinne geäußert, streuen einander neuerdings verbale Rosen, schicken ministerielle und diplomatische Missionen hin und her, und auch über algerische Gaslieferungen hat man sich bereits geeinigt.
Es sind so viele soziale Gruppen, die begannen, Forderungen zu stellen. Feministinnen wollen gleiche Rechte für die Geschlechter in der Verfassung verankert sehen. Journalisten verlangen die Freilassung von Kollegen und die Freiheit des Wortes, die bisher nur gegeben ist, wenn man drei Themen ausklammert, den König, den Islam und die territoriale Integrität (was so viel heißt wie die völkerrechtlich illegitime Okkupation der Westsahara). Berberorganisationen fordern schon länger, dass ihre Sprache, das Tamazight, dessen Unterricht in den Schulen längst begonnen hat, zur Amtssprache erhoben wird.
Andere wiederum sind gar nicht so sehr dafür, wollen lieber Globalisierung statt Berberisierung, Englisch sei die Sprache der Zukunft, und Marokko werde den Anschluss verpassen, sich isolieren vom Rest der Welt, um seine nationale Identität zu finden.
Zwischendurch macht sich auch Ungeduld breit. Der Ton der Forderungen wurde zeitweise rauer. An den Sonntagen füllen sich die Straßen, und die Kasernen leeren sich. Die Filme auf You Tube zeigten Gummiknüppel, die auf blutende Köpfe einschlagen. Die EU protestierte höflich. Man sah auch schon Transparente, die einen Regimewechsel fordern und Blogbeiträge, in denen der König beschimpft wird. Im Juli setzte die Polizei Gummiknüppel, Wasserwerfer und Tränengas ein, um Demonstranten zu besänftigen, die in Khouribga, einem der Phosphatabbauzentren ihrer Enttäuschung Luft machten. Denn als das Office Chérifien des Phosphates (OCP) eine Liste der Neuaufnahmen veröffentlichte, stellte sich heraus, dass das Flaggschiff der marokkanischen Industrie von 36 000 Kandidaten bloß 5 800 akzeptierte und davon bloß 2 800 aus der Region.[5. www.yabiladi.com/articles/details/6109/maroc-plus-d-une-centaine-blesses.html (Abfrage 13.7.2011).] Nichts kann besser die Perspektivlosigkeit der Jugend illustrieren als dieses Missverhältnis von Bewerbungen und Anstellungen. Im Übrigen spricht es auch der offiziellen Beschäftigungsstatistik Hohn, die 8,7 Prozent Arbeitslose ermittelt und 17, 4 Prozent bei den unter 24-Jährigen.[6. www.hcp.ma/Taux-de-chomage_r72.html (Abfrage 21.7.2010).]
Aber während die jungen, gut vernetzten politischen Aktivisten ihre Forderungen und Wünsche laut in die Welt hinaus trompeten, stellte sich die Welt die Frage: Was will die schweigende Mehrheit? Denn es besteht kein Zweifel, dass große Teile der Bevölkerung, die Landbewohner, die Gläubigen, die Mittelschicht, all jene, deren Existenz gesichert ist, hinter dem Monarchen stehen, der sehr populär ist, nachgerade geliebt wird, besonders auch wegen seiner Deszendenz vom Propheten Mohammed.
Dann trat zeitplangemäß am 17. Juni der König erneut in einer Fernsehrede an die Öffentlichkeit, die Inszenierung diesmal ohne den kleinen Sohn.[7. www.youtube.com/watch?v=geFftCCFS4A (Abfrage 13.7.2011).] Er umriss die Eckpfeiler der von ihm und seinen Beratern abgesegneten neuen Rechtsform des Staates, feierte sie als erste Verfassung Marokkos, die das Volk dem Land gegeben habe, und verkündete das Datum für das Referendum. Zugleich wurde der Text veröffentlicht.[8. www.reforme.ma (Abfrage 13.7.2011).]
Die Enttäuschung war groß im Lande, nicht bei allen, aber so mancher hatte sich mehr erwartet, erhofft, besonders die Bewegung des 20. Februar, aber auch Teile der Mittelschicht. Letztere fassten sich schnell wieder, trösteten sich und einander: Besser als nichts und besser als das Chaos in Libyen, Syrien, Jemen.
Die Geschichte umschreiben
Eine parlamentarische Monarchie (wie die meisten europäischen Monarchien, die Commonwealth-Mitgliedsstaaten, Japan) bekommen sie nun nicht. Da hätte der König, anders als bei einer konstitutionellen Monarchie (Liechtenstein, Monaco, Marokko, Jordanien) nicht das Recht, die Regierung aufzulösen. M6 ist zwar nicht mehr heilig, aber noch immer unverletzlich (Artikel 46), was in der politischen Alltagspraxis bedeutet, dass Kritik an ihm verboten ist. Die wichtigste Änderung: Die stimmenstärkste Partei bestimmt den Premierminister (Artikel 47). Nach der alten Verfassung hat der König ihn gemäß seinem Gutdünken nominiert. Dieser schlägt das Kabinett vor, das der König ernennt. Das war schon bisher so, aber das Staatsoberhaupt pflegte Schlüsselministerien (Innen-, Außen-, Religion-) selbst zu besetzen. Wie er diese Gewohnheit fortan zu handhaben gedenkt, werden die Wahlen im November und die Regierungsneubildung weisen. Die Verfassung hinderte ihn bisher nicht daran, mit solchen Posten die alten Seilschaften zu bedenken. Und wer wagt es schon, einem König zu widersprechen? So etwas tut man in Marokko einfach nicht.
Jedenfalls bleibt er Führer der Gläubigen (Artikel 41), Oberbefehlshaber der Armee (53), steht dem Hohen Sicherheitsrat (54) und dem Hohen Justizrat (56) vor, akkreditiert Diplomaten und Botschafter (55), er kann den Ausnahmezustand ausrufen (59). Und er kann (nach Konsultation des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes) das Parlament auflösen (96).
Außerdem wird die Geschichte umgeschrieben, denn die Berber, die bis zu Hassan II. Tod 1999 offiziell nicht existierten, sind nun voll anerkannt, das Tamazight zur Amtssprache erhoben und als gemeinsames Erbe aller Marokkaner ohne Ausnahme (Artikel 5) bezeichnet.
Am prägnantesten hat wieder Telquel das Reförmchen kommentiert: Der König habe zwar dem Premierminister den Schlüssel übergeben, selbst aber eine Kopie in der Tasche behalten.[9. www.telquel-online.com/479/edito_479.shtml (Abfrage 13.7.2011).]
Unverzüglich wurde die Propagandamaschinerie mit allen Kräften angeworfen, und die Marokkaner bewiesen wieder einmal, wie großartig sie im Organisieren sind. Fast alle gesellschaftlichen Gruppierungen, Parteien, Gewerkschaften, Moscheen, Bruderschaften, riefen zu den Urnen, bloß die ganz Linken und die ganz Religiösen favorisierten den Boykott.
Die Sonntagsmärsche nahmen neuen Aufschwung und erhielten eine neue Dimension. Die Regierung organisierte Konterdemonstrationen, Agenten wurden zum Personal rekrutieren in die Armenviertel entsandt und mindestens eine Bruderschaft mobilisierte ihre Anhänger.[10. www.jeuneafrique.com/Article/ARTJAJA2634p040-042.xml0/manifestation-mohammed-vi-casablanca-parti-de-la-justice-et-du-developpementmaroc-les-soufis-de-sa-majeste.html (Abfrage 13.7.2011).] Zwar ist die Achse zwischen den religiösen Kräften und dem Königshaus staatstragend, aber es geschah erstmals in der neueren Geschichte, dass man willentlich eine Bruderschaft aktivistisch ins Geschehen einbezog.
Es ist politisches Zündeln und einigermaßen riskant, Teile des Volkes gegeneinander zu hetzen und zu polarisieren, die im Grunde ohnedies alle dasselbe wollen: mitreden und mitnaschen. Aber bislang ist es ohne gröbere Zusammenstöße verlaufen, die Ordnungskräfte halten die Pro- und die Kontramärsche geografisch möglichst auseinander.
Programmgemäß ging am 1. Juli das Referendum über die Bühne, auch Mohammed VI. traf im Abstimmungslokal ein, gekleidet in Nationaltracht, Djellaba und Tarbusch (Fes). Wie ein gewöhnlicher Bürger teilte er selbst den grünen Vorhang, hinter dem er auftauchte. Ein grüner Vorhang musste es sein, klar, grün ist die Farbe des Propheten und Farbe des Königshauses. Vorsorglich waren die Fernsehkameras schon da[11. www.france24.com/en/20110702-constitutional-referendum-show-98-favor-curbing-kings-powers-mohammed-VI-morocco-arab-revolution (Abfrage 21.7.2010).]: Ein arabischer König, der seinen Zettel in eine Urne wirft, darauf hatte die Welt gewartet.
Noch in derselben Nacht gab Innenminister Taib Cherkaoui die Ergebnisse bekannt: 98 Prozent Ja bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent. So ein großes Interesse des Stimmvolkes war ein Novum, bei den Kommunalwahlen 2009 lag sie bloß bei 52 Prozent, bei den letzten Parlamentswahlen 2007 bei 37 Prozent. Von Seiten der Bewegung 20. Februar ergoss sich Häme über die Jasager. Denn gewöhnlich bleiben die Marokkaner den Urnen zahlreich fern, in der tiefen Überzeugung, dass Wahlen nichts ändern, womit sie bisher Recht hatten, da ohnedies der König die alles dominierende und bestimmende Figur ist. Aber diesmal ging es ums Ganze. Und der Schachzug ist dem Souverän gelungen. Er hat sich als ebenso brillanter Taktierer erwiesen wie sein Vater und Vorgänger Hassan II. Genau genommen hat das Volk mit seinem Ja weniger für die neue Verfassung gestimmt, als seinem König das Vertrauen ausgesprochen.
»Frühling ohne Marokko«
Natürlich war von Fälschungen die Rede. Besonders die hohe Beteiligung erweckte Misstrauen. Fehlende Warteschlangen und leere Abstimmungslokale wurden als Beleg angeführt, und überhaupt, in den Wählerverzeichnissen seien viele Berechtigte nicht gelistet, und es hätten, wie üblich, die Abwesenden, die nicht Existierenden und die Toten entschieden. Aber diese Stimmen waren nicht besonders laut und verstummten alsbald, denn das Ausschlaggebende ist allemal bewiesen: Das Volk steht hinter dem König. Daran änderte auch nichts, dass die Intellektuellen mit den Auslandskarrieren Partei für die Entrechteten und die Empörten ergriffen und in den edlen Blättern in Montreal und Paris einen »Frühling ohne Marokko« (Abdelhak Serhane) beschworen.[12. http://blogs.mediapart.fr/edition/les-invites-de-mediapart/article/200711/un-printemps-sans-maroc (Abfrage 21.7.2011).]
Und die Welt ist erleichtert: wenigstens ein stabiler Faktor in Nordafrika, wenigstens ein Staatsoberhaupt in der Arabischen Welt, das nicht schwankt, das aus den Stürmen dieses Jahres gar gestärkt hervorgeht. In Rabat trafen Gratulationsschreiben ein, von Sarkozy, aus China, den USA, der EU, von Spindelegger.
Ja, aber …
Sie haben mit ja gestimmt. Ja, aber …. Und so gehen die Sonntags-Demos in den Städten weiter, sie sind zur Gewohnheit geworden, jeweils ein paar tausend Teilnehmer. Sie fordern Demokratie, sie fordern Arbeit, sie fordern Sanktionen bei Korruption und vor allem fordern sie Verteilungsgerechtigkeit. Auf den Transparenten liest man: gegen die Anhäufung von Vermögen, gegen die Anhäufung von Macht. Im August war Ramadan, das bedeutet Stress für den Körper, Balsam für die Seele und normalerweise Stillstand in der Politik. Und am 25. November sollen Parlamentswahlen stattfinden. Viele Reformwillige halten diesen Fahrplan für zu knapp, weil zu wenig Raum bleibe für breite öffentliche Debatten.
Dem Islam wird regelmäßig vorgehalten, er habe keine Aufklärung produzieren können, unter anderem weil er die Trennung von Staat und Religion ablehne. Diese Einheit zwischen Politik und Glaube ist indes weniger historische Gegebenheit als theologisches Ideal, über das die Gelehrten kontrovers diskutieren. Tatsächlich widerspiegelt islamische Herrschaftsgeschichte seit ihren Anfängen das aussichtslose Bestreben, alle Muslime unter einer ordnenden Kraft zu vereinen. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Abschaffung des Kalifats (1924) im Gefolge der Politik Atatürks ist es vorerst einmal gescheitert. Die übrig gebliebenen Splitterstaaten sind geographische Konstrukte, entstanden gemäß den globalen Machtkonstellationen in der Epoche nach dem ersten Weltkrieg.
Bei keinem der Regime, die kürzlich gestürzt oder jetzt bedroht sind, besitzt der politische Befehlshaber zugleich auch spirituelle Autorität. Nur zwei der Staatsoberhäupter in der islamischen Welt verfügen über religiöse, historisch gewachsene Legitimierung. Neben Mohammed VI. ist dies Abdallah II., König von Jordanien, durch seine Zugehörigkeit zu den Haschimi, der Familie des Propheten Mohammed, die seit dem 10. Jahrhundert die Kontrolle über die heiligen Stätten des Islam ausübten und den Scherif von Mekka stellten.
Hierin liegt der größte Trumpf des marokkanischen Königs, seine hochvornehme Herkunft ist unbezahlbares religiöses Kapital. Natürlich umfasst seine Zuständigkeit durch den Titel »Führer der Gläubigen« nur seine eigenen Untertanen und nicht alle Muslime. So ist Marokko zwar jenes Land, das religiösen und gesellschaftlichen Pluralismus, wenn auch nicht auf dem Papier, aber faktisch vielleicht am besten von allen islamischen Ländern bewerkstelligt. Und es ist jenes Land, in dem die Einheit von Staat und Religion untertanenüberzeugend verwirklicht ist.
This article was originally published in October 2011 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 3-2011.