Im vergangenen Februar erklärte der kolumbianische Staatschef Juan Manuel Santos, sechs Monate nach seinem Amtsantritt: »Expräsident Uribe und ich haben die besten Beziehungen.« »Man hat alle möglichen Gerüchte erfunden, doch er und ich sind uns eins in unserer Haltung, auf diese Gerüchteküche keinen Wert zu legen. Ich empfinde nur Respekt und Bewunderung für den Expräsidenten.«
Ohne die Unterstützung seines Vorgängers und politischen Mentors Álvaro Uribe hätte Juan Manuel Santos nie die Präsidentschaftswahlen Ende Juni 2010 gewonnen. Der Sprössling einer der einflussreichsten Familien des kolumbianischen Establishments hatte im Wahlkampf stets betont, die Linie von Uribe, der das Land acht Jahre lang nach Eigendefinition »mit großem Herz und harter Hand« regiert hatte, getreu fortzusetzen. Zum ersten Teil seiner Selbsteinschätzung – das mit dem großen Herzen – gibt es nicht allzu viele Zeugen, außer die Günstlinge seiner Klientelwirtschaft; von der harten Hand hingegen können tausende Angehörige von ermordeten Gewerkschafter, MenschenrechtsaktivistInnen, Journalisten und anderen sozialen Gruppen ein trauriges Lied singen.
Juan Manuel Santos hat am 6. August seine Präsidentschaft angetreten und in den ersten Monaten seiner Amtszeit überraschende Erfolge einfahren können. Mit Venezuela und Ecuador hat der frischgebackene Staatschef die diplomatischen Bande wieder aufgenommen und sogar freundschaftliche Beziehungen aufgebaut. In der politischen Diskussion hat sich ein Ton der Sachlichkeit und der Versöhnlichkeit breit gemacht – sehr zum Unterschied gegenüber dem Konfrontationskurs seines Amtsvorgängers. Santos hat auch die unter Uribe sehr getrübten Beziehungen zur Justizverwaltung verbessert und damit begonnen, die zahlreichen aus der Uribe-Ära übernommenen Skandale aufzuarbeiten.
Der Skandal-Präsident
Doch hier beginnen auch schon die ersten Probleme. Einer der größten Skandale der letzten Regierungszeit von Präsident Uribe war der Skandal um die illegalen Machenschaften des direkt der Präsidentschaft unterstellten Geheimdienstes DAS (Departamento Administrativo de Seguridad). Fast die gesamte Regierungszeit von Álvaro Uribe – vom Amtsantritt 2002 bis zum Auffliegen des Skandals 2009 – bespitzelte dieser mächtigste Geheimdienst des Landes regimekritische Personen und Instanzen, vom Gewerkschaftsführer bis hin zum Obersten Gerichtshof, von den namhaftesten Journalisten bis hin zu Politikern usw. Nicht selten wurden die Daten dann paramilitärischen Mörderbanden oder militärischen Geheimdiensten weitergeleitet, was dann für die betroffene Person das Todesurteil bedeuten konnte – und häufig auch bedeutete.
Ein Beispiel aus der Praxis. In der kolumbianischen Tochterfirma des Schweizer Konzerns Nestlé schwelen seit Jahren wegen der kontinuierlichen Beschneidung der Kollektivvertragsrechte und der Löhne der Beschäftigten Arbeitskonflikte.
Einer der Führer der Protestbewegung war Luciano Romero vom Werk in der nordkolumbianischen Stadt Valledupar. In der Schweiz waren mittlerweile mehrere Organisationen, darunter Attac, auf diese Situation in der kolumbianischen Nestlé-Firma aufmerksam geworden. Für Ende 2005 hatten sie in der Schweiz ein öffentliches Hearing vorbereitet und dazu auch Romero eingeladen. Durch das Abhören seiner Telefongespräche erfuhr der DAS von der geplanten Reise. Am 10. September 2005 wurde er von einem paramilitärischen Kommando entführt, noch in derselben Nacht an einem Baum festgebunden und langsam zu Tode gefoltert. Man zählte 56 Einstiche an seiner Leiche. Nach Angaben der Lebensmittelarbeitergewerkschaft SINALTRAINAL wurden bisher zwölf ihrer Aktivisten in Nestlé-Betrieben in Kolumbien umgebracht. Wenn man die Gewerkschaftszentrale in Bogotá besucht, ist der Eingang stets von einer Gruppe von Männern bewacht.
Uribes langer Schatten
Der DAS-Skandal drückt auch der Innenpolitik von Präsident Santos seinen Stempel auf. Nicht nur dass die gerichtlichen Ermittlungen noch in vollem Gang sind. Ex-Präsident Uribe hat es bis jetzt geschickt verstanden, seine direkte Verantwortung für die illegalen DAS-Bespitzelungen und viele andere Skandale zu verbergen. Kein einziger Befehlsempfänger belastete den damaligen Staatschef direkt. Als nun die Justiz im November gegen die ehemalige DAS-Direktorin María del Pilar Hurtado einen Haftbefehl ausstellte, läuteten beim Ex-Präsidenten die Alarmglocken. Schnell rief er den Präsidenten Panamas, Ricardo Martinelli, an – »mein bester Freund«, so Uribe – und drängte ihn, der ehemaligen DAS-Direktorin politisches Asyl zu gewähren. Was dieser auch tat. Der Öffentlichkeit gegenüber erklärte Álvaro Uribe, in Kolumbien gäbe es keine Garantien für eine unparteiische Justiz, wodurch sogar das Leben der Angeklagten gefährdet sei. Dieses Statement löste in Kolumbien einen Sturm der Entrüstung aus, sogar unter Uribes eigenen Parteigängern. Wobei der Ex-Präsident zweifellos recht hat. Was er allerdings verschwieg: Dass es diese Garantien unter seiner achtjährigen Amtszeit für seine politischen Gegner nicht gab, aber sehr wohl für seine Freunde.
Dieser Schachzug dürfte Uribe allerdings wenig nützen, denn derzeit laufen gegen zahlreiche andere ranghohe Funktionäre des Ex-Präsidenten Ermittlungen, darunter gegen seinen Kabinettschef Bernardo Moreno, seinen Berater José Obdulio Gaviria und seinen ersten DAS-Chef und Intimus Jorge Noguera, derzeit bereits im Gefängnis. Noguera ist eine Schlüsselfigur der tödlichen Zusammenarbeit zwischen dem Präsidialgeheimdienst und dem Paramilitarismus.
Weitere und stärkere Zusammenstöße zwischen Uribe und seinem einstigen politischen Ziehsohn Juan Manuel Santos scheinen vorprogrammiert zu sein. Und für Santos, den Sprössling des alteingesessenen kolumbianischen Establishments, dürfte es wichtiger sein, das durch Uribe stark angeschlagene internationale Image seines Landes aufzumöbeln, als seinen ehemaligen Mentor vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Mit offener Kritik an seinem Vorgänger hält sich Santos allerdings auffällig zurück. Ein Problem für den neuen Präsidenten ist allerdings, dass er als Verteidigungsminister selbst zum innersten Machtkreis Uribes gehörte. Und sollte der Ex-Staatschef auspacken, so werden viele seiner einstigen Günstlinge und Mitstreiter ins Visier der Justiz geraten.
Auf der Suche nach den Namenlosen
In Kolumbien herrscht seit Jahrzehnten ein bewaffneter Konflikt zwischen den linken Aufständischen, den Guerilleros, den staatlichen Sicherheitskräften und den paramilitärischen Todesschwadronen, die in den 1980er Jahren vom Staat als Mittel der Aufständischenbekämpfung ins Leben gerufen wurden, sich später jedoch verselbständigten und immer mehr dem Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten widmeten. Mit der Zeit wurde das Panorama immer unübersichtlicher. Während die Paramilitärs in Teilen des Landes de facto die Regierungsgewalt übernommen haben, werden sie in anderen Teilen von der Armee bekämpft und liefern sich mit der FARC-Guerilla blutige Kämpfe um die Vorherrschaft im Drogenhandel – oder die beiden Erzfeinde kooperieren und teilen sich das lukrative Geschäft auf. Und staatliche Geheimdienste übermitteln den Paramilitärs Listen mit Namen von Gewerkschaftern, Menschenrechtsaktivisten, Führern von sozialen Bewegungen usw., die eliminiert gehören. Und die auch tatsächlich umgebracht werden.
In einem Erdloch von etwa vier mal acht Meter Ausdehnung stehen bei tropischer Hitze an die zehn völlig weißgekleidete Personen mit Gesichtsmasken und schaufeln. Es handelt sich um ein forensisches Team einer Sondereinheit der Generalstaatsanwaltschaft, der »Einheit für Gerechtigkeit und Frieden«, deren Aufgabe vor allem das Auffinden und Identifizieren verschwundener Menschen ist.
Wir befinden uns auf dem Friedhof von Granada, einer relativ wohlhabenden Kleinstadt in dem südlich der Hauptstadt Bogotá gelegenen Departement Meta. Eine äußerst fruchtbare Region am Fuß einer Gebirgskette der Kordilleren auf der westlichen und den rinderreichen Llanos, einer sich bis Venezuela erstreckenden Savannenlandschaft, auf der östlichen Seite. In den 1980er Jahren war hier die Linke sehr stark, sowohl die FARC-Guerilla, die »Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens«, als auch die aus den FARC hervorgegangene legale Partei »Patriotische Union« (UP). Der Präsident Belisario Betancur wollte Frieden und Versöhnung, trat mit den meisten Guerillabewegungen in Verhandlungen, schloss Waffenstillstandsabkommen. Doch das ging der Rechten zu weit. Das Militär und die Paramilitärs gingen in die Offensive, sie bekämpften die Guerilla und alle, die sie für Kollaborateure oder Sympathisanten der Aufständischen hielten. Im Laufe weniger Jahre wurden gezielt Tausende Aktivisten und Aktivistinnen der UP liquidiert, Präsidentschaftskandidaten, Parteivorsitzende, Abgeordnete. Die einzige namhafte Linkspartei im Lande blutete buchstäblich aus.
Die spärlichen Reste der Patriotischen Union und andere Sektoren des linken Spektrums schlossen sich später zum Polo Democrátivo Alternativo zusammen, dem »Polo«. Iván Cepeda wurde bei den Wahlen im Vorjahr zum Abgeordneten des Polo gewählt; sein Vater, der Anwalt und Senator Manuel Cepeda, war 1994 auf offener Straße in Bogotá erschossen worden. Mitte 2010 verurteilte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof den kolumbianischen Staat der Täterschaft.
Der Staatsterrorismus
Der Jesuit Javier Giraldo ist wohl der bekannteste und meist gefährdete Menschenrechtsaktivist im Lande. Unermüdlich klagt er seit Jahren die Regierung, die staatlichen Sicherheitskräfte, in- und ausländische Unternehmen schwerster Menschenrechtsverletzungen an. Seit einigen Monaten sind der Pater Javier Giraldo, der Abgeordnete Ivan Cepeda und einige Leute aus seinem Team im Lande, vor allem im Departement Meta, unterwegs, um Massengräber aufzuspüren. Gräber mit den sterblichen Resten der Opfer des kolumbianischen Konflikts. Sie arbeiten dabei mit der Staatsanwaltschaft zusammen, die die logistische Seite der makabren Suche übernimmt. Cepeda und Giraldo gelten als die meistgehassten Gegner des Expräsidenten Álvaro Uribe Vélez. Es mutet wie ein Wunder an, dass die beiden die acht Jahre von Uribes Regierungszeit überlebten.
Wir stehen am Rande der Grube, in der die Forensiker nach Menschenknochen buddeln. Padre Javier, wie ihn die meisten Menschen hier nennen, spricht ein Gebet für die Menschen, deren Überreste in dieser rostbraunen Erde ruhen. Die weißen, wie Überirdische anmutenden Gräber mit ihren Schaufeln und Fachgeräten stehen still, sie haben die Gesichtsmasken abgenommen. Eine verdichtete Ergriffenheit liegt über uns. Mit leiser Stimme erinnert der Padre an das Menschsein jener, deren Knochen jetzt ausgegraben und in roten Plastiksäcken verwahrt werden.
»Gibt es in Ihrer Familie ein Opfer des Konflikts?«, frage ich Juana B., die an diesem Tag ebenfalls zum Friedhof gekommen ist. »Ja, mein Bruder Henry«, antwortet sie, »der 1998 von den Paramilitärs entführt wurde. Dann haben sie auch einen Neffen von mir festgenommen, haben ihn gefesselt durch den Ort geführt, ihn misshandelt und gesagt, er sei ein Guerillero. Anschließend haben sie ihn umgebracht, aber wir haben seinen Leichnam nie gefunden.«
Fast alle der – vor allem – Frauen, die zum Friedhof gekommen sind, vermissen Angehörige. Sie möchten wenigstens wissen, wo ihre sterblichen Überreste liegen. Und viele haben heute, fünf oder zehn Jahre nach derem Verschwinden, immer noch keine Vermisstenanzeige aufgegeben. Aus Angst, dass auch sie dadurch gefährdet werden könnten. Eine Frau erzählt mir, wie die Familie nach dem Verschwinden ihres Mannes Drohungen erhielt, in die Provinzhauptstadt Villavicencio flüchtete und auch von dort wieder vertrieben wurde. Viele dieser Menschen gehören heute zu den etwa vier Millionen Binnenflüchtlingen Kolumbiens, die sich großteils in den urbanen Ballungszentren niedergelassen haben und dort die Elendsviertel rapide anwachsen lassen.
Man schätzt, dass allein auf dem Friedhof von Granada an die 500 Namenloser begraben wurden. Entweder in einem Massengrab oder in Einzelgräbern. Auf dem schlichten Kreuz steht dann: N. N., 2008 (das Jahr des Todes) und eine Registriernummer.
Auf 51.000 Menschen schätzt die US-amerikanische »Arbeitsgruppe Lateinamerika« in einer im vergangenen Dezember veröffentlichten Untersuchung die Zahl der im Gefolge des bewaffneten Konflikts in Kolumbien verschwundenen Personen – weit höher als die Zahl der Verschwundenen während der grausamen Diktaturen in Argentinien oder Chile. An die 32.000 davon sollen gewaltsam durch die Akteure des bewaffneten Konflikts – die Armee, die Paramilitärs und die Guerilla – zum Verschwinden gebracht worden sein. »Das Schlimmste daran ist«, so schreiben die Autoren der oben erwähnten Studie, » dass die Zahl der Verschwundenen in Wirklichkeit noch viel höher sein dürfte.« Wenn alle Frauen, die mir am Friedhof von Granada ihre Geschichte erzählt haben, morgen die Vermisstenanzeigen ihrer Angehörigen aufgeben, dann wird die Zahl der Verschwundenen im Nu um mindestens zwanzig steigen.
Die »falschen Erfolgsmeldungen«
Soacha ist eine eigenständige Gemeinde am Stadtrand der Hauptstadt Bogotá, die in Kolumbien bekannt ist als ein Schmelztiegel der Bevölkerung, in dem Binnenflüchtlinge aus allen Landesteilen zusammenkommen. Die Zahlen über die Einwohner der Gemeinde sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von 350.000 (auf Grundlage einer offiziellen Zählung von 2005) über 700.000 (eine statistische Hochrechnung für 2010) bis über eine Million, nach Schätzung von Nichtregierungsorganisationen. Auch bei den Flüchtlingen sind die Zahlenangaben sehr verschieden: sie schwanken – nach offizieller Angabe – von 33.000 bis geschätzte 300.000. Die Elendsviertel ziehen sich endlos über die Hügel hinweg; sogar an den steilsten Hängen kleben noch Hütten. Sie sind die ersten, die bei den Regenfällen – die auf Grund des Niña-Phänomens im heurigen Winter so stark sind wie noch nie – weggeschwemmt werden.
Auf diesem Hintergrund der verallgemeinerten Armut konnte eine menschliche Tragödie wie die der so genannten »Madres de Soacha«, der Mütter von Soacha, Wirklichkeit werden. Im ersten Halbjahr 2008 wurden 16 junge Männer aus Soacha von so genannten Arbeitsvermittlern, meistens aus demselben Wohnviertel, angeheuert und dann an die Armee verschachert. Sie wurden nie wieder gesehen. Die Angehörigen begannen sie dann zu suchen, monatelang. In Spitälern, Leichenhallen, Friedhöfen. Bis eine der Mütter, Luz Maria Bernal, nach acht Monaten verständigt wurde, dass die Leiche ihres Sohnes in einem Massengrab in der an die 400 Kilometer nördlich von Bogotá gelegenen Stadt Ocaña gefunden wurde. Dort wurden dann auch die Körper der anderen Verschwundenen aus Soacha gefunden, alle in Guerilla-Uniformen gekleidet und laut Armeeberichten als im Kampf gefallene Guerilleros angeführt.
Der Hintergrund einer unglaublichen Geschichte
Begonnen hatte alles mit der »Politik der Demokratischen Sicherheit«, dem Kernstück der Regierungspolitik von Präsident Álvaro Uribe Vélez, der im August 2002 sein Amt antrat. Die Ziele dieser Politik waren die Bekämpfung des »Terrorismus« (in der Uribe-Diktion die Umschreibung für Guerilla) und des Drogenhandels, die Rückgewinnung des staatlichen Gewaltmonopols und die Zusammenarbeit der Bevölkerung mit den Sicherheitskräften: Es wurden ein umfassendes Spitzelsystem und Bauernmilizen aufgebaut.
Als die im Wahlkampf versprochene Vernichtung der Guerilla binnen zwei Jahren nicht eintrat, wurde der Präsident nervös. Er drängte die Armeeführung, ihm Zahlen zu liefern, die den Erfolg seiner Politik untermauern sollten. Und so kam er auf die Idee, das US-System des body count aus Zeiten des Vietnam-Krieges, das Zählen der gefallenen Gegner, nachzuahmen. Die kolumbianischen Sicherheitsstrategen begannen nun, Anreize zur Steigerung der im Kampf gefallenen Feinde auszuarbeiten. Verteidigungsminister Camilo Ospina Bernal erließ 2005 die Richtlinie 029, wonach »Informationen, die zur Festnahme oder Tötung von Angehörigen illegaler bewaffneter Organisationen« (d.h. Guerilla und Paramilitärs, in der Praxis jedoch fast nur erstere), mit Geld oder Sachleistungen, wie z.B. Sonderurlaub oder Beförderung, belohnt werden. Und das Dekret 1400 vom Mai 2006 legte Kriterien und Ausmaß der Belohnungen fest. Für die Festnahme oder Tötung eines ranghohen Guerilla-Führers wurde eine Vergütung von bis zu 13.106 Mindestmonatsgehältern festgelegt.
Die Soldaten begannen nun, unschuldige Menschen, meist Jugendliche, kaltblütig zu erschießen, ihnen Guerilla-Uniformen anzuziehen und dann die Prämien für »im Kampf gefallene Terroristen« zu kassieren. Auch die höheren Offiziere erhielten Belohnungen für ihren »heldenhaften Kampf gegen die Subversion«.
Die Infanteriebrigade 41 und das Mobile Einsatzbataillon 15 in der Region von Ocaña waren in dieser Hinsicht besonders fleißig. So sehr, dass Menschenrechtsorganisationen diese Häufung von »im Kampf gefallenen Guerilleros« auffiel und sie Ende 2007 ein öffentliches Hearing zu dem Thema veranstalteten. Die Militärführung kam nun zur Einsicht, vorsichtiger vorgehen zu müssen. So verfiel man auf die Idee, »Guerilleros« zu importieren. Im Jänner 2008 begannen zwei »Arbeitsvermittler« in Soacha mit ihrer makabren Tätigkeit, Kanonenfutter für die Brigade von Ocaña anzuheuern. Kein schwieriges Unterfangen in einer Stadt mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von 22 Prozent. Sie brachten die Arbeitsuchenden mit öffentlichen Bussen zu ihrem Bestimmungsort und lieferten sie dort an die Armee ab.
Carmenza lässt nicht locker
Ich sitze Carmenza Gómez Romero im Büro des Ombudsmanns für Menschenrechte in Soacha gegenüber. Zum xten Mal erzählt sie einem Journalisten ihre Leidensgeschichte – und die von zweien ihrer Söhne. Victor Fernando Gómez verließ am 23. August 2008 sein Zuhause – um eine gut bezahlte Arbeit im Norden Kolumbiens anzutreten, wie er kurz darauf seiner Mutter am Telefon berichtete. Doch zwei Tage später war der 23-Jährige tot, erschossen als angeblicher Guerillero. »Ich bin zusammengebrochen, als ich es am 2. September erfahren habe«, sagt Carmenza Gómez. In der Gerichtsmedizin zeigte man ihr ein Foto ihres Lieblingssohnes, er hatte elf Einschusslöcher im Körper. Sie hatte sich Geld ausgeliehen, einen Leichenwagen gemietet und die Leiche Víctors abgeholt. »Hier liegen noch mehr Jungs aus Soacha in Massengräbern, die die Armee umgebracht hat«, erfuhr sie. Und sie ging mit dieser Information an die Presse. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht über die ganze Welt. Als Präsident Uribe sah, dass der Sachverhalt nicht mehr zu vertuschen war, trat er den Sprung nach vorne an und entließ 27 Offiziere und Soldaten, die mit den außergerichtlichen Hinrichtungen in Verbindung gebracht wurden. Sie wurden jedoch nicht vor Gericht gestellt – mit Ausnahme einer einzigen Person –, sondern unter Fortbezahlung der Bezüge in Pension geschickt.
Carmen unterbricht immer wieder ihre Erzählung; die Tränen ersticken ihre Stimme.
Als »Spitze des Eisbergs« bezeichnete Philip Alston, UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Hinrichtungen, die Fälle aus Soacha. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft in über 2.300 solcher Fälle, 125 der Opfer waren minderjährig. Weitaus höher liegt die Dunkelziffer, Menschenrechtsgruppen haben mehr als 3.000 Fälle dokumentiert.
Anfang Jänner startete in Kolumbien das erste Verfahren in Sachen »Falsche Erfolgsmeldungen«. Ein Major und drei Soldaten wurden wegen der Ermordung von drei Bauern im Departement Antioquia im Dezember 2002, die sie anschließend als im Kampf gefallene Guerilleros präsentierten, angeklagt. Im Fall der verschwundenen Jugendlichen aus Soacha ist auch zweieinhalb Jahre nach dem Auffliegen des Skandals noch kein Urteil gesprochen.
Victors Bruder John stellt nach dessen Ermordung auf eigene Faust Ermittlungen an. Vier Monate später bestellte man ihn zu einem Laden. »Zwei Typen kamen mit einem Motorrad. Einer stieg ab, zog eine Pistole mit Schalldämpfer, ging in den Laden und schoss drei Mal. Ein Schuss traf John in den Mund, er fiel ins Koma«, erinnert sich Carmenza Gómez. »Am Morgen darauf starb er im Krankenhaus von Soacha.«
»Niemand ist verurteilt, keine Familie entschädigt worden«, sagt der Menschenrechtsanwalt Alberto Yepes. Dass der damalige Verteidigungsminister und heutige Staatspräsident Santos ernsthaft gegen die Straflosigkeit vorgehen werde, hält er für unwahrscheinlich.
Carmenza Gómez berichtet, dass sie immer wieder bedroht wird. Aber sie lässt nicht locker: »Ich will, dass die Mörder bestraft werden. Wenn mir etwas passiert, ist klar, warum.«
Selbstmordkommando Gewerkschaft
Der südamerikanische Narco-Staat nimmt nicht nur bei den Verschwundenen weltweit eine Spitzenposition ein, sondern auch bei der Zahl der ermordeten GewerkschafterInnen.
Während das fast tägliche Gewitter dieses kolumbianischen Endlos-Winters an die Fensterscheiben prasselt, erzählt mir Yessika Hoyos die Geschichte von der Ermordung ihres Vaters vor zehn Jahren – und von den Folgen dieses Attentats auf ihr eigenes Leben. Jorge Darío Hoyos Franco war Berater mehrerer Gewerkschaften und Aktivist sozialer Bewegungen. Am 3. März 2001 wurde er in Bogotá von zwei Angehörigen paramilitärischer Gruppen erschossen, die dann beide verhaftet und verurteilt wurden. Yessika besuchte einen der beiden mehrmals im Gefängnis. »Das war nicht einfach, aber ich wollte unbedingt die Wahrheit herausfinden«, erzählt sie, die zum Zeitpunkt der Tat gerade ihr Rechtsstudium absolvierte. Heute ist sie in dem Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo, CAJAR, für das Thema Gewerkschaften zuständig.
Im Zuge ihrer eigenen Recherchen über die Hintergründe der Ermordung lernte sie die kolumbianische Form der Wahrheitsfindung kennen. Sie fand im Sterberegister heraus, dass der angebliche Kopf des Attentats gegen ihren Vater, ein Polizist, der für dieses Verbrechen zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde, bereits vor zwei Jahren gestorben war. Die Verurteilung des Toten wurde damals als großer Erfolg der Justiz gefeiert.
Bei politisch motivierten Attentaten ist es üblich, die Ermittlungen zuerst in eine falsche Richtung zu lenken, etwa dass eine Liebesgeschichte dahinter stünde oder ein normaler Raubüberfall. In fast allen diesen Fällen gehen die Täter straflos aus, zumindest die Drahtzieher. Yessicas Nachforschungen ergaben, dass Politiker hinter der Ermordung ihres Vaters standen, und zwar solche mit starken wirtschaftlichen Interessen. Und auch die staatlichen Sicherheitskräfte inklusive dem skandalgeschüttelten präsidialen Geheimdienst DAS.
Seit der Gründung der linken Gewerkschaftszentrale CUT im Jahre 1986 sind an die 2.800 GewerkschaftsaktivistInnen ermordet und knapp 200 zum Verschwinden gebracht worden. Das führte dazu, dass Kolumbien heute den niedrigsten Organisierungsgrad bei Gewerkschaften in ganz Lateinamerika aufweist. Nur mehr 850.000 Beschäftigte, weniger als fünf Prozent der ArbeitnehmerInnen, gehören einer Gewerkschaft an. Gemäß der letzten ausführlichen Untersuchung über Gewerkschaftsverfolgung in Kolumbien von Amnesty International aus dem Jahr 2007 sind in 49 Prozent der Fällen Paramilitärs die Täter, in 43 Prozent staatliche Sicherheitskräfte und in zwei Prozent die Guerilla.
Am 1. September des Vorjahres mussten Yessika Hoyos und ihre KollegInnen von CAJAR erleben, wie eine Gruppe namens »Nationalistische Bewegungen von Kolumbien« vor dem Sitz des Anwaltskollektivs demonstrierte und lauthals die Auslöschung dieser Organisation forderte. »Wir haben gesehen, dass Familienangehörige von Militärs dabei waren, Angehörige verschiedener Geheimdienste und Anhänger der extremen Rechten.« Später kam es zu einer weiteren Manifestation gegen das Kollektiv. Mehrere MitarbeiterInnen wurden telefonisch mit dem Tod bedroht. Yessika: »Heutzutage sind schon so gut wie alle Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in Kolumbien bedroht worden, und auf viele wurden bereits Attentate verübt. Unter diesen Umständen ist an eine normale gewerkschaftliche Tätigkeit nicht zu denken.« Auf die Frage, wie sie denn mit diesem Leben unter ständiger Bedrohung umgehe: »Das gibt mir noch mehr Kraft, den Kampf für ein soziales und demokratisches Kolumbien fortzusetzen. Damit wir in Zukunft Kinder haben können, die nicht Gefahr laufen, wegen ihres gewerkschaftlichen oder menschenrechtlichen Engagements umgebracht zu werden.«
Am 6. August des Vorjahres hatte Juan Manuel Santos die Präsidentschaft aus den Händen von Álvaro Uribe Vélez, der Kolumbien in einen mafiösen Staat umgewandelt hatte, übernommen. Ivan Cepeda vom ›Polo Democrático‹, hatte mir in einer prägnanten Analyse schon vor einem Jahr die Stärke und Schwäche von Uribes Machtkonstrukt benannt: »Es handelt sich um eine Macht mit einer sehr soliden Basis. Es ist aber auch eine verletzliche Macht, die durch ihre eigene Struktur verletzt werden kann. Eine Macht, die eng mit kriminellen Organisationen verbunden ist, verstrickt in eine Situation, in der jede illegale Handlung eine weitere illegale Dynamik auslöst.«
Die solide Basis des zwei Amtsperioden lang unumschränkt und unangefochten herrschenden Staatschefs besteht wohl noch weiter, doch es mehren sich die Anzeichen von Brüchen. Und einer Entzweiung zu seinem Nachfolger Santos, der im Wahlkampf stets unermüdlich betont hatte, die Politik von Uribe getreu fortzusetzen. Eine Verschärfung der Widersprüche zwischen den beiden mächtigsten Politikern des Landes scheint unausweichlich.
Der neue Präsident will Kolumbien den Mantel eines demokratischen rechtsstaatlichen Landes umhängen. Doch die Schatten seines »bewunderten« Vorgängers werden ihm noch lange zu schaffen machen
This article was originally published in January 2011 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 1-2011.