Gesellschaftliche Hintergründe der arabischen Revolten: Beispiel Tunesien

Vielfach werden die jüngsten Volksaufstände lediglich auf politische Faktoren, schamlose Korruption und Menschenrechtsverletzungen, oder auf externe Einflüsse, wie angebliche US-amerikanische Interventionen, zurückgeführt. Demgegenüber sollen hier die strukturellen und endogenen Gründe, die dies ermöglicht haben, in den Vordergrund gestellt werden. Oberflächlich sind auch jene Kommentare, die die Demokratiebewegung schon als beendet bezeichnen, weil der Dominoeffekt nicht so dynamisch wie zu Beginn weiterlief bzw. die Bewegung im Sommer 2011 angeblich überhaupt stagniere. Hier wird hingegen die Meinung vertreten, dass sich der soziale Wandel in diesen Gesellschaften relativ unspektakulär, aber reell seit jeher produziert und nur in Europa aus Überheblichkeit nie entsprechend wahrgenommen wurde.

Der soziale Wandel wurde durch die Diktaturen gebremst und einigermaßen zugedeckt, aber keinesfalls aufgehalten und ist seit Jahresbeginn nur sichtbarer geworden. Die im Folgenden hervorgehobenen strukturellen Faktoren sind bzw. waren auch in unseren Breiten wirksam und sind höchstens in ihrer jeweiligen landesspezifischen Kombination originell. Sie werden auch weiterhin ihre Wirkung zeigen, selbst wenn es im demokratischen Prozess Rückschläge geben sollte, und diesmal vielleicht auch bei uns mit mehr Aufmerksamkeit bedacht werden als bisher, vor allem da die Rückwirkungen auf Europa evidenter geworden sind.

Wohl der wichtigste Faktor als Vorbedingung der Auflehnung ist die Schwächung der religiös dominierten Tradition, die eine zunehmende Individuierung in den arabischen Gesellschaften ermöglicht hat. Sie bedingt den Rückgang der Bedeutung des Patriarchats und seiner Derivate in der Gesellschaft, sowohl auf individuell-familiärer als auch auf regionaler und staatlicher Ebene. Mit Individuierung ist die Konstituierung der Subjekte als verantwortlich Handelnde auf Basis des freien Willens und in Anbetracht der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angesprochen. In der traditionalen Gesellschaft ist das Individuum relativ unbedeutend und existiert lediglich als Teil von familialen, tribalen, kulturellen und berufsständischen Gruppen mit einem allein tonangebenden Patriarchen oder Anführer. Im Gegensatz dazu bringt die zunehmende Modernisierung Möglichkeiten der Emanzipation des Einzelnen bzw. seine Entwicklung als Persönlichkeit mit selbstgewählter Integration in verschiedene und neue soziale Netzwerke und Kollektive, ohne deshalb notwendigerweise in Individualismus zu verfallen.

Die Modernisierung, hier gefasst als Prozess der Erringung zunehmender Volkssouveränität gegenüber traditionalen und religiösen Autoritäten, wird durch eine Vielzahl von einzelnen und miteinander verschränkten sozialen Prozessen herbeigeführt, die seit dem 19. Jahrhundert und verstärkt in den letzten Jahrzehnten im arabischen Raum stattfinden. Dort waren diese Veränderungen weniger spektakulär als in Europa, wo der kapitalistische Umbruch der traditionalen Gesellschaften dynamischer ablief und durch die beiden Weltkriege verstärkt und beschleunigt wurde. Sie beruhen aber auf den gleichen sozio-ökonomischen Mechanismen.

Demonstranten auf dem Regierungsplatz; © CC0 1.0
Demonstranten auf dem Regierungsplatz; © CC0 1.0

Es handelt sich in der Folge grundlegender ökonomischer Umwälzungen zunächst um demografische Veränderungen, die jetzt zum Tragen kommen. Dazu gehört vor allem das starke Bevölkerungswachstum in der jüngeren Vergangenheit, wobei allerdings die Unterschiede zwischen den arabischen Staaten groß sind. Auf jeden Fall gibt es heute überall eine große Zahl junger Menschen, insbesondere viele junge Männer, die mangels Arbeit und Ressourcen nicht bzw. erst spät im Leben heiraten können und unter den Bedingungen einer repressiven Sexualmoral ein Konfliktpotential darstellen. Huntington hatte die Verjüngung der arabischen Gesellschaften bekanntlich als einen der Gründe für eine Radikalisierung des Islam angesehen, doch wie die säkularen Bewegungen in Tunesien und Ägypten zeigen, scheint gegenwärtig eher das Gegenteil der Fall zu sein. Die große Zahl junger Menschen, die angesichts der Wirtschaftskrise bei der Modernisierung zu kurz kommen, stärkt zwar auch die islamistischen Traditionalisten, aber selbst diese treten heute für mehr Demokratie ein, sei es aus religiös motiviertem Gerechtigkeitssinn oder einfach nur, um die damit verbundenen Freiräume ausnützen zu können.

Auf die Phase des starken Bevölkerungswachstums folgte eine Stabilisierung mit schrumpfender Familiengröße, wodurch das Patriarchat in die Defensive gedrängt wurde: die Entstehung von urbanen Kleinfamilien unter ökonomisch prekären Bedingungen produziert zwangsläufig mehr Auseinandersetzung und Mitsprache der Familienmitglieder. Dazu kommt die zunehmende Einschulung der Frauen und der Jungen in den Familien, selbst mit ein Grund für die Reduzierung der Kinderzahl. Die Infragestellung der väterlichen Autorität bedingt auch die Relativierung der dominierenden Rolle des ältesten Sohnes bzw. Bruders und erleichtert die Emanzipation der Mädchen und jungen Frauen. Weiters hat die Praxis der Endogamie, des Heiratens innerhalb der (agnatischen) Großfamilie im Zuge der langsamen Auflösung der traditionalen Lebensformen in den letzten Jahrzehnten überall stark abgenommen. Damit schwindet auch die entscheidende Rolle der Alten in der Gesellschaft, die als monopolisierte Heiratsvermittler über Zwangsehen entscheidende Machtbefugnisse gegenüber den Jungen innehatten.

Sit-in in Kasba Tadla; © Leomaros, CC BY SA 3.0
Sit-in in Kasba Tadla; © Leomaros, CC BY SA 3.0

Ein weiterer Grund für die Schwächung des Patriarchats ist zivilisatorischer Natur. Es sind sowohl die neuen Perspektiven und Möglichkeiten, als auch die wirtschaftliche Krise, die die Rolle der Väter beeinträchtigt. Die Rezepte der Tradition helfen nicht in globalisierten Wirtschaften, wo neue Technologien neue Formen kooperativen Handelns erfordern. Andererseits müssen arbeitslose oder marginal beschäftigte Väter mit der Einbuße ihres Status als erfolgreiche Familienernährer zu Rande kommen. Das ermöglicht einerseits die Auflehnung der Jüngeren und ist andererseits mit ein Grund für die Attraktivität der konservativen, die alten Lebensformen idealisierenden islamistischen Botschaft. Es ist weiters nicht verwunderlich, dass manche arbeitslose junge Akademiker angesichts mangelnder Perspektiven im Land und der Blockierung der Emigration durch die »Festung Europa« traditionalistischen Ideen nicht abgeneigt sind, doch stellten sie in den Protestbewegungen nur eine kleine Minderheit dar. Seit Beginn der Demokratisierungsphase scheint es den Islamisten aber zu gelingen, sozusagen als Trittbrettfahrer der Revolution an Einfluss zu gewinnen, nicht zuletzt dadurch, dass Geldmittel aus dem Ausland offenbar reichlich zur Verfügung stehen.

Die soziologischen Veränderungen tragen zusätzlich zu einer Schwächung autoritär-patriarchalischer Lebensformen bei. An erster Stelle ist hier die Frauenemanzipation zu nennen. Sie wurde durch eine geringere Kinderzahl sowie bessere Ausbildung und steigende Berufstätigkeit ermöglicht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind hier beträchtlich und variieren vom liberalen tunesischen Modell bis zur weitgehenden Entrechtung der Frauen beispielsweise in Saudi Arabien. Urbanisierung und Landflucht, auf Grund der geringen Produktivität der traditionellen Landwirtschaft, sind weitere soziale Prozesse, die zu einem Aufbrechen der herkömmlichen Solidaritätsformen führten. Sie hatten die Ausbildung einer Arbeitnehmerklasse zur Folge, die neue Solidaritätsmuster, wie die Arbeit in Großbetrieben sowie der Organisation in Gewerkschaften, erfordert. Auch die exportorientierte mittelständische Wirtschaft sowie der Tourismus als Sozialmodell und Arbeitsplatz setzen Lernprozesse in Gang, erfordern Toleranz und ermöglichen die Öffnung gegenüber dem (nicht-muslimischen) Anderen.

Wichtig für den Bedeutungsverlust traditioneller Hierarchien ist in den meisten Ländern die Abnahme der Bedeutung des Stammeswesens, sei es gezielt wie in Tunesien, sei es auf Grund ökonomischer Modernisierungsprozesse anderswo. Junge Menschen in der traditionalen Gesellschaft leben sozial im Familienverband, in einer Welt der Cousins. Im städtischen Milieu reduziert sich dies zwangsläufig und neue Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt entstehen, wobei die neuen Kommunikationsmedien eine große Rolle spielen. Und schließlich spielt die Migration als Primär- bzw. Sekundärerfahrung sowie als Projekt eine Rolle: ein Zehntel der Tunesier lebt im Ausland und Ähnliches gilt für die meisten Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens. Der materielle Wohlstand der Emigranten gilt als erstrebenswert, viele junge Männer streben eine zeitweilige Emigration selbst dann an, wenn sie einen Arbeitsplatz zu Hause haben. Für die Väter bedeuten solche Projekte einen Verlust der Kontrolle und der Einflussnahme, doch haben sie nicht mehr genug Autorität, um sie zu verhindern, wie die jüngsten massiven Fluchtbewegungen junger Männer aus Tunesien gezeigt haben.

Der Autoritätsverlust wird durch die kulturellen Veränderungen verstärkt, die in den zunehmend urbanisierten Gesellschaften u. a. durch die modernen Massenmedien propagiert werden. Dabei ist es nicht nur das über Satelliten empfangene europäische Fernsehen, sondern sind es auch lateinamerikanische und türkische soap operas in den nationalen TV-Stationen, die neue Verhaltensmuster vorstellen. Dies führt besonders unter Bedingungen der Diktatur zu einer Einschätzung der bestehenden Traditionen als antiquiert, insofern sie für neuartige familiäre und soziale Probleme, Herausforderungen und Möglichkeiten keine Alternativen anzubieten haben, außer eben eine – islamistische – Rückkehr in die Vergangenheit.

Bei den revoltierenden Volksbewegungen waren keine traditionalen und kulturspezifischen Mobilisierungselemente im Spiel und wenn, dann nur am Rande. Im Gegenteil, die oft als westliche Erfindung denunzierten Allgemeinen Menschenrechte dienten bewusst oder unbewusst als Leitmotiv der weitgehend gewaltfreien Erhebungen. Der erzkonservative, gewaltbereite homo arabicus, wie er im Kielwasser der israelischen Propaganda in den westlichen Medien gerne kolportiert wird, existiert in dieser essentialistischen Form nicht mehr bzw. hat so nie existiert. Es ist zu hoffen, dass im Zuge der Fortführung der Emanzipationsbewegungen auch die essentialistische Orient-Okzidentspaltung endlich überwunden werden kann.

© raphaelthelen, CC BY SA 2.0
© raphaelthelen, CC BY SA 2.0

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Intensivierung der Ideologiediskussion über die Rolle der Religion in der Gesellschaft. Die Diktatur überlebte lange dadurch, dass sie einerseits die Religion für ihre Zwecke instrumentalisierte, aber andererseits den laizistischen Bewegungen gewisse Freiräume garantierte. Das ermöglichte, dass in Tunesien schon in den letzten Jahren zahlreiche Bücher erschienen, die die Modernisierung des Islam zum Thema hatten. Die darin dargelegten Thesen werden jetzt verstärkt auch in den Medien diskutiert. So spielt In Vorbereitung der Wahlen für die gesetzgebende Versammlung im Oktober 2011 die Frage der arabisch-muslimischen Identität der Bevölkerung eine zentrale Rolle, wobei ihre Kritiker auch die Notwendigkeit eines Prozesses der Aufklärung im und gegenüber dem Islam propagieren. Der Koran sei zwar das Wort Gottes, ist aber über einen Menschen, den Propheten Mohamed, an uns gekommen, folglich historisch-kritisch zu interpretieren und an die jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten anzupassen. Der angesehene Islamologe und Historiker Mohammed Talbi tritt in mehreren Publikationen für einen laizistischen Staat, mit dem Argument, dass das Religiöse letztlich Privatsache sei, im Gegensatz zu den Vorschriften der Scharia, ein.

Die Scharia fungierte seit ihrer Konzipierung nach dem Tod des Propheten durch verschiedene Rechtsgelehrte (Ulemas) in erster Linie als Rechtfertigungsinstanz und Unterdrückungsmittel für die jeweils Herrschenden, d. h. die Religion diente der Politik und nicht umgekehrt. Sie sei für den jahrhundertelangen Despotismus und das bis heute weit verbreitete autoritäre Persönlichkeitsmuster (wie von Adorno/Horkheimer für den Faschismus beschrieben) in den arabischen Gesellschaften verantwortlich. Ihre Überwindung, wie sie durch die jüngsten, in der arabischen Geschichte neuartigen Volksbewegungen ermöglicht wurde, sei eine Voraussetzung, den extremen Traditionalisten und Salafisten den ideologischen Boden unter den Füßen wegzuziehen. Autoren wie Talbi erklären die Scharia sogar zur Gänze für obsolet und schlagen eine Erneuerung nur auf Basis des Korans vor, wo sie außerdem mit keinem Wort erwähnt werde. Der Koran enthielte implizit überdies bereits den Laizismus, die Trennung zwischen Religion und Politik, und sei als Orientierungsrahmen überhaupt nur spirituell aufzufassen. Und Talbi kommt zu dem Schluss, dass die Scharia letztlich für die soziale Unmündigkeit und den Fatalismus in der islamischen Welt verantwortlich und daher abzuschaffen sei.

Es ist keine Frage, dass durch diese Art von Stellungnahmen die bisherige unwidersprochene Rechtfertigungspraxis der religiösen und auch weltlichen Autoritäten untergraben wurde. Ob diese Ansätze zu einer Aufklärung aber in einen dauerhaften Prozess mit dem Ziel der effektiven Trennung zwischen Religion und Staat münden können, hängt nicht von der Diskussionsbereitschaft der Intellektuellen alleine ab: es erfordert auch wirtschaftliche, politische und soziale Rahmenbedingungen, die der überwiegend jungen Bevölkerung eine Perspektive geben können. Hier sind jetzt die Europäer gefordert, die in ihrem arabischen Hinterhof aus Ignoranz, geistiger Bequemlichkeit und purem Eigennutz allzu lange die Diktaturen gestützt hatten, aber letztlich kein Interesse an einer Machtübernahme durch einen radikalisierten Islam im Maghreb haben sollten.

Die politischen und ökonomischen Probleme trugen gleichfalls zur Schwächung der traditionalen Gesellschaftsordnung bei, sie sind sowohl Auslöser als auch Ursachen der Revolten. Neben Korruption, Misswirtschaft und der Verweigerung von politischen Grundrechten kam es auf Grund von zum Teil aufgezwungenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu strukturellen Fehlentwicklungen. Diese sind vor allem im Zuge der neoliberalen Strukturanpassung im Sinne des Washington Consensus seit den Achtzigerjahren entstanden und haben zu falschen und fragwürdigen Orientierungen in der Wirtschafts- und Sozialplanung geführt. Der extreme Wirtschaftsliberalismus ließ die strukturellen Entwicklungsparameter wie die oben erwähnten demografischen Veränderungen unberücksichtigt. Er hat einen Exportsektor ermöglicht, der nur durch künstlich niedergehaltene Löhne konkurrenzfähig ist. Auch der viel gelobte Tourismus ist nicht nachhaltig: er führt zu einem übermäßigen Verbrauch von knappen, nicht erneuerbaren Ressourcen wie z. B. Wasser und ist volkswirtschaftlich nur wenig rentabel. Der Boom im Immobiliensektor ist auf high standing hin orientiert und steht, wie sich gerade zeigt, gleichfalls auf tönernen Füssen. Schließlich war es die systematische Vernachlässigung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zugunsten von Agrobusiness und modernen Großbetrieben bzw. Prestigeprojekten, die das regionale Ungleichgewicht verstärkte und das Unzufriedenheitspotential vergrößerte, zumal etwa die Hälfte der Bevölkerung im traditionellen Sektor tätig ist.

Insgesamt gesehen sind die erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen in unterschiedlichen Ausprägungen in allen arabischen Ländern wirksam und produzieren zwangsläufig Emanzipationsbewegungen, die sich nirgends auf die Dauer unterdrücken lassen werden. Sie bleiben latent vorhanden, selbst wenn es zu Rückschlägen in der Erneuerungsbewegung kommen sollte. Diese sind nicht von der Hand zu weisen, wie die Lage im Sommer 2011 im Nahen Osten und in Nordafrika zeigt. Im Falle Tunesiens kann man zwar noch nicht von einer deklarierten Konterrevolution sprechen, doch sind die Akteure und Nutznießer des alten Regimes noch lange nicht entmachtet. Die beiden Nachbarn, Algerien und das Libyen Gaddafis, sehen die tunesische Demokratisierung mit scheelen Augen. Und schließlich haben die USA, wie Noam Chomsky kürzlich darlegte, kein Interesse an einer echten Demokratisierung in den arabischen Ländern. Diese könnten ihnen letztendlich die Rechnung für jahrzehntelange Missachtung präsentieren, die sich nicht nur in der einseitigen Unterstützung israelischer Positionen im Palästinakonflikt manifestierte. Es bestanden und bestehen in den meisten arabischen Ländern endogene demokratische Traditionen und Bewegungen, die mit stillschweigender oder aktiver Unterstützung des Westens durch die lokalen Diktatoren regelmäßig abgewürgt wurden.

Das Lamento, die arabischen Staaten seien noch nicht reif für die Demokratie, ist unter diesem Blickpunkt scheinheilig. Es wird in Tunesien durch die Vielzahl von neu zugelassenen politischen Parteien, Vereinen, Periodika und Publikationen sowie die rasche Reaktionsfähigkeit der Bevölkerung auf Probleme, Skandale und Fehlentwicklungen ad absurdum geführt. Die Überwachung der politischen Szene durch Revolutionskomités, durch Gruppen besorgter und engagierter Bürger, funktioniert auf allen Ebenen, Demonstrationen, Streiks und sit ins sind häufig. Alle diese Prozesse der Mobilisierung der Zivilgesellschaft verbunden mit einem sich neu entwickelnden freien Journalismus stellen günstige Voraussetzungen für den Fortbestand der Erneuerungsbewegung dar.

In der vor allem von der Jugend getragenen Revolte hat sich das Individuum zumindest ansatzweise als autonomes, politisches Subjekt konstituiert und ungeachtet der sozialen Zugehörigkeit neue Formen der non-konformistischen Mobilisierung geschaffen, die an den hierarchisch strukturierten Institutionen wie Gewerkschaften und Parteien erfolgreich vorbei agierten. Die neuen Medien haben dabei die Kommunikation und Vernetzung erleichtert, sollten aber nicht überschätzt werden. Viel wichtiger war, dass die tiefsitzende Angst vor den Herrschenden, ein Merkmal der autoritären Persönlichkeit, durch die kollektive Aktion überwunden wurde. Es sind die inneren Widersprüche des gesellschaftlichen Strukturwandels, die es ermöglicht haben, dem Despotismus auf staatlicher und institutioneller Ebene eine klare Absage zu erteilen, wobei die Auswirkungen bis in die Familien reichen. Damit ist das Ende der patrimonialen, auf Klientelbeziehungen beruhenden diktatorischen Herrschaft eingeleitet, selbst wenn sie ein hartnäckiges und in manchen Ländern anscheinend erfolgreiches Rückzugsgefecht liefert.

This article was originally published in October 2011 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 3-2011.
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