Der akademische Mega-Event lief diesmal unter dem Titel »construyendodiálogos en las Américas« hauptsächlich auf Spanisch und Portugiesisch. Die üblichen kostspieligen und bisweilen nervenden Simultanübersetzungen in andere Sprachen konnten entfallen, da die Amerikanisten durchwegs in den genannten Sprachen arbeiten und sozusagen unter sich waren. Eines der zentralen Themen der Konferenz verdient wegen seiner Originalität nähere Betrachtung: das hierzulande kaum bekannte Konzept des »Buenvivir«, BV, also des guten Lebens. Es stellt eine grundsätzliche Kritik am westlichen Fortschrittsmodell dar und bietet zugleich eine Alternative dazu an. Vorweggenommen sei, dass BV mit der hierzulande grassierenden, hedonistischen Wellness-Bewegung rein gar nichts zu tun hat.
Entwickelt wurde dieser Ansatz in den Andenländern als Antwort auf die zunehmende Zerstörung der Umwelt durch die rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen der Länder rings um das Amazonasbecken. Vor allem die Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerung Ecuadors und Boliviens wurden und werden durch Erdölbohrungen, Bergwerke und Agrobusiness nicht nur beeinträchtigt, sondern geradezu existentiell bedroht. Als Antwort kam es zu einer in der Geschichte dieser Region beispiellosen sozialen Mobilisierung, die dann zu Neuwahlen, dem Sieg linker Kräfte und schließlich zur Aufnahme des »BuenVivir«, des »sumakkawsay«, in die Verfassungen Ecuadors bzw. Boliviens führte.
Wie einer der prominenten Förderer dieses Prozesses in Ecuador, der Universitätsprofessor und frühere Parlamentspräsident Alberto Acosta, in der diesbezüglichen Plenarsitzung sowie in den einschlägigen Arbeitskreisen ausführte, ist »BuenVivir« ein Konzept, das seine Wurzeln in indianischer Weltsicht hat. Im Unterschied zum analytischen, cartesianischen europäischen Denken mit dem Primat der Rationalität sehen die Ureinwohner Amerikas die Welt ganzheitlich und sich als Teil davon. Die Natur ist dabei die allumfassende Lebensspenderin (»Pachamama« in Bolivien) und hat als solche auch einklagbare Rechte. Der Akzent liegt auf der Kritik abendländischer Rationalität, die als bisher einzige Epistemologie die Natur aus dem Bereich der Erkenntnisfindung ausgeschlossen und damit in eine ökologische Sackgasse geführt hat.
Für die Ureinwohner Amerikas gab es keine Teleologie, sondern es herrschte zyklisches Denken vor, in dem von der Wiederkehr des ewig Gleichen ausgegangen wird. Erst unter christlichem Einfluss [1. A.E. Ceceña, UNAM, Mexiko, in ihrem Referat.] wurde der Zukunftsgedanke eingeführt und – trotz aller negativen Begleiterscheinungen – damit immerhin das Konzept der Utopie von einer anderen und besseren Gesellschaft ermöglicht. Insofern ist BV keine Rückkehr in eine idyllische Vergangenheit, sondern ein zukunftsorientiertes und ständig neu zu erarbeitendes Gesellschaftsmodell.
Dem infolge von Kolonisierung und abhängiger Entwicklung auch in Lateinamerikaherrschenden Modernisierungsglauben, der Fortschritt mit Wachstum gleichsetzt, wird in diesem Modell eine klare Absage erteilt. Das beginnt bereits mit der Kritik an den üblichen Indikatoren der Produktivität, die wesentliche Leistungen wie die Subsistenzwirtschaft, den Gütertausch oder die Arbeit der Frauen übersehen und vergessen, die an der Umwelt angerichteten Schäden entsprechend in Rechnung zu stellen. Das Problem sei im Übrigen gar nicht die Unterentwicklung der südlichen Hemisphäre, sondern die so genannte Entwicklung im und durch den Norden, die geradezu eine Pathologie der Modernität darstelle. Die in der Globalisierung entfesselten Marktmechanismen ließen keinen Platz mehr für den Schutz der Natur als Grundlage allen Lebens. Entwicklung kann und soll, im Gegensatz zum Primat wirtschaftlichen Wachstums, aber heißen, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, ohne dabei die Substanz der Erde anzugreifen und zu zerstören. Dabei geht das BV wesentlich weiter als unsere ökologischen Bewegungen, die vielfach lediglich Reparaturen am im Übrigen nicht weiter hinterfragten Wirtschaftsmodell propagieren. Kritisiert werden so die Illusionen der neuerdings modischen«greeneconomy«, die letztlich nur auf die Kontinuität des bisherigen kapitalistischen Wirtschaftsmodells abzielt[2. Eine Kritik findet sich in Beautiful Green World. On the Myths of a Green Economy, Luxemburg foundation, Argumente no. 3 vol. 2 Berlin 2012.]. Demgegenüber werden ein Bruch mit der bisherigen Praxis und die Erarbeitung eines alternativen zivilisatorischen Modells angestrebt, in der Gesellschaft und Natur keine Gegensätze mehr darstellten.
Die Prinzipien des »sumakkawsay« auf ökonomischem Gebiet sind die der Solidarität: weder Staat noch Markt werden für fähig gehalten, für sich allein die Probleme der Armut, Ausgrenzung und Entwicklung zu lösen. Zusätzlich sollen Komplementarität und Reziprozität im lokalen Austausch kleinräumigen Wirtschaftens wesentliche Grundbedürfnisse befriedigen helfen. Auf sozialem Gebiet werden Investitionen in Gesundheit und Ausbildung propagiert, auf politischem die regionale Integration mit den Nachbarstaaten und die Überwindung des Unterschieds zwischen Inländern verschiedener ethnischer Herkunft und Ausländern oder Immigranten, also die radikale Umsetzung des Gleichheitsgedankens.
Kernstück ist aber die Natur, die in der neuen Verfassung Rechtssubjekt wird. Daraus ergeben sich Konsequenzen wie z.B. die Herausnahme des Wassers aus dem freien Markt, der Schutz der Biodiversität und vor allem die Überwindung des sogenannten Extraktivismus, der exzessiven Ausbeutung natürlicher Ressourcen und dies selbst dann, wenn die Gewinne nicht mehr ausländischen Multis und inländischen Oligarchien, sondern zur Verbesserung der Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten dienen sollten. Dabei geht es nicht nur um Bodenschätze, sondern auch um den Schutz der so genannten erneuerbaren Ressourcen wie den Wald und die Bodenfruchtbarkeit. Grundsätzlich sollen ökonomische Aktivitäten aber nicht gebremst werden, ihre Umweltverträglichkeit muss nur vorab bewiesen werden. Ecuador versucht beispielsweise, seine Entwicklung nicht mehr durch Erdölexporte zu finanzieren, sondern sucht Wege eine »economiapospetrolera« aufzubauen. Das schlechte Beispiel der Erdöl exportierenden Länder in LA, deren Reichtum nirgends zu echter Entwicklung, sondern im Gegenteil zu weit verbreiteter Armut, Gewalt und Korruption geführt hat, steht dabei Pate.
Die angestrebte und bereits begonnene sozio-ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft impliziert keineswegs eine Verringerung des Lebensniveaus breiter Bevölkerungsschichten. Versucht wird vielmehr, Wohlstand, d.h. ein Leben in Würde mit Befriedigung der Grundbedürfnisse, ohne ständiges Wirtschaftswachstum zu erzielen, eine eingestandenermaßen schwierige Aufgabe. Die zugrunde liegende Konzeption ist die der »convivialidad«, des Zusammenlebens der Menschen miteinander und mit der Natur. Demgemäß ermöglicht ein Mehr an gleichberechtigtem Austausch unter Individuen gleichzeitig eine Verbesserung der Lebensqualität. Diese besteht nicht mehr in der individuellen Anhäufung von Konsumgütern, sondern zielt auf andere soziale und spirituelle Ebenen. Impliziert ist dabei sicherlich ein bescheideneres und einfacheres Leben durch Vermeidung exzessiven Konsums. Der im westlichen Denkmodell vorherrschende Individualismus wird somit nicht nur als entfremdend, sondern auch als gesellschaftlich kostspielig entlarvt.
»Buenvivir« geht aber noch weiter: die bisherige »Entwicklung der Unterentwicklung« war durch eine im Solde der internationalen Finanzinstitutionen stehende Expertenherrschaftmitverursacht, zu der neuerdings auch viele der Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) zählen[3. Auch die österreichische EZA hat sich nach einem ethnologisch sensibilisierten und zielgruppenorientierten Beginn in den Siebzigerjahren immer mehr in Richtung klassischer Wirtschaftsförderung entwickelt, wobei heute sogar die Verfolgung von heimischen Exportinteressen nicht mehr tabu ist.]. Die neue Entwicklungsplanung wird nun nicht mehr alleine von Spezialisten, sondern unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung in Angriff genommen, ein Konzept, das schon von dem jesuitischen Fortschrittskritiker Ivan Illich in den Siebzigerjahren propagiert wurde. Es handelt sich bei »Buenvivir« um ein kollektives und partizipatives Projekt. Bei diesem werden die indianischen Wurzeln zwar anerkannt, aber die Gefahr der Romantisierung im Sinne eines Revivals des »schönen Wilden« wird vermieden. Die indigenen Protagonisten des Konzepts in Ecuador stellten etwa von vornherein klar, dass es keine soziale Ausschließung geben dürfe und dass die Vorteile des neuen Entwicklungsparadigmas auch allen andern Ecuadorianern zukommen sollten. Tatsächlich gibt es analoge Bewegungen auch in den afrikanischstämmigen und mestizischen Bevölkerungsgruppen.
»Buenvivir« ist eine Utopie des respektvollen Zusammenlebens von Mensch und Natur, die gleichzeitig im Sinne des Philosophen Ernst Bloch praktische, realisierbare Züge aufweist. Entwicklung ist in dieser Konzeption kein linearer Prozess, in dem es ein Vorher und Nachher gibt, sondern eine ganzheitliche Vision, die zu einem harmonischen Leben führt. Sie wird in einem permanenten Prozess konstruiert und in die Praxis umgesetzt, wobei Debatte und Dialogeine tragende Rolle spielen. Demokratie ist dabei der Angelpunkt, »siempremásdemocracia, nuncamenos«, sagte der Mentor des BV, Alberto Acosta auf der Konferenz.
Bei der Umsetzung des Konzepts wurden bereits wichtige Etappen absolviert. Die vielleicht spektakulärste ist die Verabschiedung einer neuen Verfassung sowohl in Ecuador (2008) als auch in Bolivien (2009), in denen die BV-Konzepte integriert wurden. Im Zuge der Einführung einer Reihe von neuen Rechtsinstitutionen der Bürgerbeteiligung und der direkten Demokratie, vor allem in Ecuador, wird als oberstes Ziel staatlicher Aktivität das »Buenvivir« propagiert. Der plurinationale Charakter des Staates, d.h. die rechtliche Gleichheit ungeachtet ethnischer Zugehörigkeit, wurde vor allem in Bolivien ausformuliert. Auf ökologischem Gebiet sind nun in beiden Ländern Umweltverträglichkeitsprüfungen und dergleichen verfassungsmäßig abgesichert. Insgesamt enthalten etwa hundert der 400 Verfassungsartikel in Ecuador Hinweise auf das BV.
Eine Schöne Neue Welt?
Nach dem bisher Gesagten könnte man meinen, dass sich die Andenländer bereits in einem zivilisatorischen Eldorado befinden. Zahlreiche Probleme sind jedoch nicht von der Hand zu weisen. Die Verfassungen sind lediglich drei Jahre alt. Es ist zu früh, für fundierte Bewertung und Kritik. Trotzdem gab es auch auf der Konferenz bereits kritische Stimmen, die die Umsetzung der Ziele gefährdet sehen bzw. die Schwächen des Ansatzes kommentieren.
Da ist zunächst das Konzept des BV selbst. Es wird von unterschiedlichen indianischen Gemeinschaften unterschiedlich aufgefasst, wodurch divergierende, teilweise auch gegenläufige Interpretationen ermöglicht werden. Selbst die semantische Gleichsetzung des »sumakkawsay« mit dem spanischen«BuenVivir« sei nicht eindeutig, was Missverständnisse mit der indigenen Bevölkerung verursache. So wurde kritisiert, dass es sich um ein Konzept handle, dass eher von mestizischen Eliten entwickelt worden sei und letztlich indirekt den Interessen des Extraktivismus diene. Auch auf politischem Gebiet sind Dezentralisierung und Basisdemokratie zwar festgeschrieben, doch könnten Konflikte zwischen indigenen Gruppen (Hoch- und Tieflandindianer wie z.B. in Bolivien) nur schwer unter dem neuen Autonomiestatut verhandelt werden. Die Autonomie stelle außerdem einen Freiraum für indigene Sozialpraktiken dar, die mit den Menschenrechten nicht unbedingt konform gingen.
Die Verfassungen beider Länder enthalten zudem noch immer zahlreiche Elemente, die im Sinne des westlichen Entwicklungsmodells interpretiert werden können, sodass institutionelle Konflikte vorprogrammiert sind. In der Praxis werden neue, verfassungskonforme Ziele oft nicht erreicht, da Verwaltung und Rechtsprechung noch sehr stark im alten System verhaftet sind. [4. A Schilling-Vacaflor, Es wird nie mehr wie es vorher war, in »lateinamerika« anders, Nr 2/2012.] Auflagen wie Umweltverträglichkeitsprüfungen werden nicht immer durchgeführt und das jüngst vom ecuadorianischen Präsidenten Correa unterzeichnete Kupfer-Bergbauprojekt mit einer chinesischen Investorengruppe widerspreche überhaupt den Prinzipien des BV. [5. Correa wird seitdem von der indianischen CONAIE Vereinigung als Verräter bezeichnet (Kurzreferat Ph. Altmann, FUB Berlin).]
In vielen Bereichen wurden, vor allem sozial und politisch, zwar weitgehende Verbesserungen für breite Bevölkerungsschichten erzielt, doch stehen Erfolge auf wirtschaftlichem Gebiet noch aus.[6. Eduardo Gudynas, Seis puntos clave en ambiente y desarrollo, in A. Acosta et al.,Buen vivir, una via para el desarrollo Ed Abya Yala 2009, p 41.] Insbesondere der Post-Extraktivismus, der Verzicht auf die Ausbeutung der Bodenschätze, sei schwer in die Praxis umzusetzen. Die wirtschaftlichen Strukturen beruhten nach wie vor auf intensivem Ressourcenabbau. Nicht zu unterschätzen sei auch die Tatsache, dass die einheimischen Oligarchien und ihre ausländischen Verbündeten solche Ansätze mit scheelen Augen sehen und ihre Anwendung hintertreiben.
Trotzdem hielten die Konferenz-Teilnehmer in den entsprechenden Arbeitskreisen das BV übereinstimmend für einen Schritt vorwärts auf dem Weg zu einer gerechteren, ökologisch nachhaltigen Gesellschaftsform. Das Konzept hätte seine Nützlichkeit bei Verstaatlichungen, Naturschutz und Mitbestimmung bereits bewiesen und ähnliche Tendenzen gebe es schon in Peru und Brasilien. Die Verfassungen Lateinamerikas, ursprünglich einfache und nie in die Praxis umgesetzten Kopien westlicher Vorbilder, glichen sich immer mehr den regionalengesellschaftlichen Realitäten an. [7. Sagte z.B. F. Mares de Souza Filho, Pontific. Univ. Católica de Parana, Brasilien.]
La décroissance, BV auf europäisch?
BV ist sehr stark lateinamerikanisch geprägt, weist aber viele Parallelen mit der vor allem in Frankreich entwickelten Bewegung der »décroissance« (die Wachstumsverweigerer[8. www.objecteursdecroissance.org]) auf. Dabei handelt es sich gleichfalls um einen wachstumskritischen Ansatz, der sowohl die ökologischen Grenzen, als auch die zunehmende Entfremdung der Menschen thematisiert.
Ausgehend von einer ähnlichen Kritik am kapitalistischen Wachstumsmodell wird von dieser Bewegung ein ethisch-politisches Projekt zur Einrichtung einer gemeinschaftlichen (im Sinne von convivialité, Zusammenleben), autonomen und Ressourcen sparsam verbrauchenden Gesellschaft vorgeschlagen. Die Autoren um den Kulturphilosophen Serge Latouche[9. Serge Latouche hat dazu zahlreiche Publikationen verfasst, zuletzt Sortir de la societé de consommation: voix et voies de décroissance, Ed les liensquilibèrent, 2010.] denunzieren gleichfalls den Entwicklungsmythos und seine praktischen Konsequenzen: Vermarktung von Mensch und Natur, wachsende Ungleichheit, Staatsverschuldung und Umweltzerstörung. Um diesen Zustand zu ändern, sei es zuerst notwendig, das »Imaginäre zu entkolonisieren«, d.h. sich von den Illusionen von Wachstum und Entwicklung als einziger Weg zur Überwindung von Armut und Mangel freizumachen. In der Folge werde der Weg frei für mehrere grundlegende Reformen: die Neufassung (révalorisation) der grundlegenden Werte menschlichen Zusammenlebens im Sinn von Solidarität und Altruismus, die Umgestaltung (réstructuration) der wirtschaftlichen Produktionspalette hinsichtlich Grundbedarf und Qualität und der daraus resultierenden Arbeitsverhältnisse wie z.B.(Lebens-)Arbeitszeitverkürzung, die Umverteilung (rédistribution) der erzielten Gewinne bzw. Güter, die räumliche Lokalisierung der Produktion zur Vermeidung unnötiger Transporte, die Reduktion des individuellen Konsums zumindest auf das Niveau der Sechzigerjahre sowie die systematische Wiederverwendung (recycling) gebrauchter Materialien.
Diese Neuorientierung der Gesellschaft im Sinne einer »ökologischen Demokratie«[10. Ein anderer europäischer Ansatz, der dem BV noch näher kommt, ist die Tiefenökologie; eine Bewegung, die gleichfalls auf eine ganzheitliche Erfassung der Welt ausgerichtet ist.] sollte idealerweise durch eine Art konsensualer Kulturrevolution aus der Einsicht in die Grenzen des Wachstums herbeigeführt werden. Die Chancen dafür hält Latouche allerdings für gering: das Décroissance-Projekt sei nicht mehrheitsfähig, am wahrscheinlichsten sei hingegen, dass uns diese Option durch Umwelt- bzw. Finanzkatastrophen letztlich aufgezwungen werde (la pédagogie de la catastrophe).
Auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem BV angesprochen sieht Alberto Acosta in der Décroissance-Bewegung einen wichtigen Alliierten, die sich aber durch eine stärker anthropozentrische Ausrichtung unterscheidet. Tatsächlich steht dort noch immer der Mensch im Vordergrund, was nicht verwundert, da im entwickelten Norden der einzige Hebel zur Verringerung der ökologischen Belastung (der sogenannte«footprint«), der Konsumverzicht ist, also eine Strategie, die für die breiten Massen in Lateinamerika natürlich nicht in gleichem Maße gelten kann. Ein weiterer Unterschied liegt in der Auffassung, dass Null- oder Negativwachstum nicht notwendigerweise nachhaltiges Wirtschaften bedeutet und für ein solches strengere institutionelle Sicherheiten eingebaut werden müssten.
Der »neo-desarrollismo[11. Mit »desarrollismo« wird in Lateinamerika die meist autoritäre klassische Entwicklungsdoktrin bezeichnet.]«, ein notwendiger Zwischenschritt?
Angesichts der im Großen und Ganzen negativen Auswirkungen der Globalisierung nach neoliberalen Prinzipien, inklusive totalen Freihandels auf die lateinamerikanischen Gesellschaften gibt es seit Ende der Neunzigerjahre die Tendenz, den Staat wieder stärker in die Wirtschaft einzubinden. Auch darüber wurde auf der Konferenz in den Arbeitskreisen über politische Transformation ausgiebig diskutiert. Vergleicht man die drei Wirtschaftsräume ALENA, ALBA und MERCOSUR[12. Siehe Referat von Martin Romero Morett, Univ. de Guadalajara, Mexiko, der die sozialen Auswirkungen der aktuellen Integrationsbemühungen in Nord-(ALENA), Mittel- (ALBA) und Südamerika (MERCOSUR) vergleicht.], kann man feststellen, dass mehr politische Steuerung der Wirtschaft nicht nur einen gewissen Aufschwung(Argentinien und Brasilien) ermöglicht, sondern auch eine bessere Verteilung der erwirtschafteten Produkte im Rahmen von Sozial- und Ausbildungsprogrammen erlaubt (Venezuela, Bolivien, Ecuador). In Mexiko hingegen hat sich seit dem Anschluss an die nordamerikanische Freihandelszone der Anteil der sozial Ausgeschlossenen und Armen vervielfacht. Staatlich geleitete Umverteilungsprogramme gab es auch zur Zeit der Hochblüte des desarrollismo, des klassischen Entwicklungsparadigmas, wie z.B. des Peronismus in Argentinien. Die Neuauflage dieser Doktrin ist jedoch wesentlich weniger autoritär bzw. diktatorisch und deutlich mehr ökologisch orientiert.
Trotz vieler Konzessionen findet der Neo-desarrollismo in den Augen der Anhänger des BV keine Gnade, da er die Ausbeutung der Natur nicht beendet, sondern fortsetzt und lediglich die Gewinne etwas gerechter verteilt. In der Praxis und angesichts der Probleme der Umsetzung des BV in konkrete Aktionen, bzw. Unterlassungen, könnte er aber doch einen notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zur Realisierung der Utopie darstellen. Denn die Schwierigkeiten des posextravismozeigten sich in Ecuador schon rasch. Das geradezu revolutionäre Yasuni ITT Programm [13. Zum voraussichtlichen Scheitern des Yasumi-ITT Projekts vgl. A. Bernier, En Ecuateur, la biodiversité à l’épreuve de la solidaricé internationale, in LeMonde Diplomatique, juin 2012, p 10f.], die Ölreserven im Amazonasgebiet nicht auszubeuten, also die natürliche Umwelt zu erhalten und sich den entgehenden Gewinn von der internationalen Staatengemeinschaft ersetzen zu lassen, dürfte nicht aufgehen. Trotz bereits gemachter Zusagen seitens der reichen Länder sind die entsprechenden Geldflüsse bisher eher spärlich geflossen.
Ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts?
Angesichts der Stagnation der westlichen Sozialdemokratie, der ideologisch und zivilisatorisch kaum mehr einfällt, als kosmetische Veränderungen am vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodell anzustreben, sind die Ansätze aus Lateinamerika ein erfrischender Beitrag zu einer Neudefinition des Sozialismus. Während im 20. Jahrhundert der Sozialismus sozusagen mit den Beinen des Kapitalismus ging, d.h. de facto das gleiche Wachstumsmodell mit anderen Vorzeichen vertrat, geht es heute um eine grundsätzliche zivilisatorische und antikapitalistische Umgestaltung. BV und ähnliche Ansätze wie die der Selbstverwaltung der Zapatisten in Chiapas, stellen das einseitig auf wissenschaftlich fundierter Naturbeherrschung basierende Ausbeutungsmodell infrage und sehen nicht den Gewinn, sondern die Befriedigung sozialer Bedürfnisse als entscheidend an.
Der belgische Soziologe Francois Houtard[14. Socialismo del siglo XXI, superar la lógica capitalista, entrevista a F Houtard, el Buen Vivir op.cit.pp. 149-168.], selbst Teilnehmer am Prozess der Ausarbeitung des BV, skizziert diesen postkapitalistischen Ansatz in vier Punkten:
- Die nachhaltige Nutzung der Natur, wobei diese als »patrimonio«, als unveräußerliche Leihgabe, gefasst wird, die möglichst unverändert bzw. verbessert an kommende Generationen weitergegeben werden sollte. In vielen Ländern, nicht nur im Andenraum, bedeutet das zunächst eine Rückgewinnung der nationalen Souveränität über die Bodenschätze.
- Eine dominierende Orientierung an Gebrauchswerten gegenüber dem Tauschwert in der Güterproduktion, wobei auch den Sektoren Gesundheit, Ausbildung und Kultur besondere Bedeutung zukommen sollte.
- Eine weitgehende Demokratisierung und Mitbestimmung in allen menschlichen Bereichen, vor allem auch in Wirtschaftsfragen, wobei kollektive, nicht notwendigerweise staatliche Eigentumsformen gefunden bzw. reaktiviert werden sollten (Genossenschaften, Gemeindeeigentum etc.).
- Eine »pluri-culturalidad«[15. Im Unterschied zum angelsächsischen Konzept des Multikulturalismus, das lediglich ein Nebeneinander verschiedener Kulturen bei wirtschaftlicher Dominanz der Mehrheitskultur darstellt.], die den Austausch zwischen verschiedenen Kulturen ermöglicht, die Hegemonie der westlichen, primär marktorientierten Kultur relativiert und traditionelle Formen der Wissensgewinnung rehabilitiert.
Der implizite Bruch mit der europäischen Moderne betrifft nicht nur die Ablehnung des westlich-kapitalistischen Fortschritts- und Entwicklungskonzepts, sondern auch eine Überwindung desmarxistischen Materialismus: im Unterschied zum herkömmlichen Sozialismus ist die spirituelle Komponente über einen emphatischen Naturbegriff präsent. Das BV zeigt einen Weg in diese Richtung auf und von einigen Autoren wurde es bereits als »republikanischer Biosozialismus« identifiziert.
Europäische Umweltaktivisten können von einer Festschreibung der Rechte der Natur in der Verfassung lediglich träumen und Sozialisten damit einen Weg aus der ideologischen Sackgasse finden. Insofern ist der in Augenhöhe zu führende Dialog mit diesen neuen Bewegungen in Lateinamerika von beiderseitigem Nutzen, insofern er auch deren internationale Unterstützung, ganz im Sinne des Themas der diesjährigen Amerikanistenkonferenz ermöglicht.
Insgesamt ist das BV keine alternative Entwicklung, sondern die Entwicklung von grundsätzlich neuen Alternativen. Die Gleichsetzung von Entwicklung bzw. Fortschritt mit Wachstum wird überwunden und andere, für das Überleben wesentlichere Dimensionen bekommen mehr Gewicht. Die Natur wird von einer abendländisch auf »Umwelt« reduzierten Konzeption wieder ins Zentrum der Entwicklungsanstrengungen gestellt. Damit könnte auch die philosophische Debatte über den Sinn des Lebens auf einer (gar nicht so) neuen, überindividuellen Basis geführt werden.
This article was originally published in October 2012 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 3-2012.