Existentielle Krise der Palästinensische Autonomiebehörde oder Ruhe vor der nächsten Intifada?

Die größtenteils friedlichen Proteste im Westjordanland gegen die hohen Lebenserhaltungskosten und die politische Misswirtschaft werfen altbekannte Fragen neu auf und bieten gleichzeitig Möglichkeiten, festgefahrene politökonomische Strukturen neu zu denken.

Nach den ersten Protesten im Westjordanland Anfang September 2012 fühlten sich viele PalästinenserInnen an die Stimmung vor der ersten Intifada zurückerinnert. Viele von ihnen sprachen im Hinblick auf die größtenteils friedlichen Proteste von einer »Ruhe vor dem Sturm«, in der es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Proteste heftiger werden würden. Doch die aktuelle Situation in den Palästinensischen Autonomiegebieten unterscheidet sich gravierend von der Situation in den späten 1980ern. So sind die Ursachen der September-Proteste größtenteils ein Produkt der Konfliktlösungen der ersten und zweiten Intifada. An erster Stelle sind hier das Oslo-Abkommen (1993) und das Paris-Protokoll (1994) zu nennen, welche die israelische Hegemonie seit 1967 über die Autonomiegebiete festigten, ihre »Errungenschaften« schützen und ihre sukzessive Fragmentierung entlang politökonomischer Linien vorantrieben. Die israelische Okkupation selbst ist in der jüngsten Krise sicherlich als das Bindeglied zwischen den ökonomischen Auslösern einerseits und den unterschiedlichen politischen Komponenten andererseits.

Aus ökonomischer Sicht ist die Krise im September von der israelischen Besatzung und den Auswirkungen des Paris-Protokolls nicht zu trennen. Ebenso darf man die Dynamik der globalen Finanzkrise nicht außer Acht lassen, wenn auch nicht überbetonen. Für ein besseres Verständnis der Lage im Westjordanland ist es bei einer ökonomischen Perspektivierung essentiell, den kleinsten gemeinsamen Nenner der strukturellen Auswirkungen dieser Aspekte zu identifizieren. Demnach ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) nicht in der Lage gewesen, umfassender auf die globale Finanzkrise zu reagieren, gerade weil ihr die notwendigen Instrumente und Strukturen, die unter der israelischen Okkupation nicht entwickelt werden konnten und können, fehlen. Das Paris-Protokoll ist mehr als nur ein Rahmenwerk, das die ökonomischen Beziehungen zwischen Israel und der PA regelt. Vielmehr ist es ein Werkzeug, dass es Israel erlaubt, der PA seine Konditionen aufzuoktroyieren und dadurch die palästinensische Wirtschaft der israelischen zu unterwerfen. Von vornherein wird so auch jedweden Forderungen der PA gegenüber Israel der Wind aus den Segeln genommen.

Impulse der Finanzkrise, wie z. B. Teuerungen der Weltmarktpreise, schlugen sich in der palästinensischen Ökonomie besonders nieder, da ihr Konsummarkt zum größten Teil auf Importen aus Israel und aus anderen Ländern beruht. Neben den Teuerungen der Lebenserhaltungskosten, der Treibstoff- und Gaspreise, löste das gleichzeitige Ausbleiben von großen Summen von Donorgeldern aus arabischen und westlichen Ländern Anfang September eine Welle von Protesten aus. Die PA erhielt bisher nur 40 Prozent der internationalen Finanzhilfen, die ihr von internationalen Gebern zugesichert worden waren, was unter anderem die unregelmäßige oder Nichtauszahlung von Beamtengehältern zufolge hatte. Nahezu überall im Westjordanland wurde gegen die hohen Lebenserhaltungskosten protestiert. Bei Demonstrationen in Hebron und Nablus kam es auch vereinzelt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften der PA. Neben den Demonstrationen wurden zahlreiche Streiks ausgerufen, die das Westjordanland und zahlreiche Institutionen stunden- und tagelang faktisch lahmlegten.

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Festzuhalten ist an dieser Stelle der schnelle Reifeprozess der Proteste: Von einer Welle der Entrüstung über die technisch-ökonomischen Lösungsansätze der PA, die eine Anhebung der Mehrwertsteuer und der Treibstoff- und Gaspreise bedeuteten, hin zu einer emanzipatorischen Systemkritik. Nahmen die Proteste zu Beginn noch die Politik von Premierminister Salam Fayyad ins Visier, dessen Name im Licht des Palestinian Reform and Development Plan (PRDP) von 2008 für Neoliberalismus, Privatisierung, Marginalisierung des öffentlichen Sektors und Abhängigkeit von westlichen Donorgeldern steht, wurde bald klar, dass die Regierung unter Fayyad selbst »nur« eine Marionette (wie Fayyad in seinen ersten Reaktionen auf die Proteste auch betonte) der durch die israelische Hegemonie etablierten Kontrollmechanismen der palästinensischen Wirtschaft ist. Beobachtete man den Verlauf der Proteste vom September 2012 und ihrer Forderungen, konnte man schon nach wenigen Tagen den Schwenk von symptomatischer Kritik an der politischen Klasse hin zu politisierter Systemkritik an der israelischen Okkupation vernehmen. Schon nach wenigen Tagen wurde in diesem Sinne dezidiert die Aufhebung des Paris-Protokolls und der Annullierung des Oslo-Abkommens gefordert.

Es war nicht zuletzt die Zielrichtung dieser Kritik, die ironischerweise die israelische Regierung im Hinblick auf die Notwendigkeit einer innerpalästinensischen Lösung der finanziellen Krise zwang von »gemeinsamen Interessen« zu sprechen. [1. »PM Netanyahu orders transfer of funds to the Palestinian Authority«. Israel Ministry of Foreign Affairs am 11. September 2012. Abrufbar unter www.mfa.gov.il/MFA/Government/Communiques/2012/PA-funds-transfer-11-Sep-2012.htm.] Im Licht dieser gemeinsamen Interessen sind die Proteste vom September wiederum interessant, weil sie der PA gegenüber Israel ein »indirektes Druckmittel« verschafften. So empfahl die israelische Militärführung, die eine Ausweitung und Eskalation der Proteste befürchtete, ihrer Regierung, die Fayyad-Regierung finanziell zu unterstützen. Daraufhin erklärte sich die israelische Regierung bereit, 225 Millionen Shekel (rund 57 Millionen US-Dollar) an zurückgehaltenen Steuern an die PA zu überweisen. Das Einbehalten von Steuereinnahmen aus den Autonomiegebieten durch Israel ist durch das Paris-Protokoll festgelegt und »legitimiert«.

Der emanzipatorische Wert der Streiks selbst wird an der durch sie hervorgerufenen Dynamik sehr deutlich, etwa in der beispielsweise noch nie da gewesenen Einheit der im öffentlichen Verkehr beschäftigten Fahrer, die durch Streiks vor allem auf die steigenden Treibstoffpreise aufmerksam machten. Ihre Gewerkschaft rief zu zahlreichen Streiks auf und konnte aufgrund der hohen Abhängigkeit der PalästinenserInnen von öffentlichen Verkehrsmitteln den Verkehr im gesamten Westjordanland blockieren. Es ist an dieser Stelle zu unterstreichen, dass diese Einheit der Fahrer(-gewerkschaft) bei politischen Forderungen im Westjordanland ein Novum darstellte. Gleichzeitig stellt sie auch eine Protestform dar, die das Alltagsleben aller PalästinenserInnen direkt trifft. Die PA erklärte die Streiks der Fahrer ihrerseits sogar für illegal und drohte mit einer Klage beim höchsten Gerichtshof.

Zudem war die hohe Beteiligung von Jugendlichen ein zentrales Merkmal der Proteste. Schon zu Beginn waren Jugendgruppen wie die »Youth Against High Prices« oder die »Palestinian Youth for Dignity« Teil der Proteste gegen die aktuellen Preisentwicklungen sowie gegen die politische Misswirtschaft innerhalb des Westjordanlandes. Vielfach waren es diese jungen Gruppen, die für Proteste mobilisierten und als treibende Kraft hinter der Artikulation von Missständen zu sehen. Neben der starken Beteiligung von Jugendlichen fanden sich unter den Protestierenden auch BeamtInnen und GewerkschaftsaktivistInnen.

Die Palästinensischen Autonomie in ihrer schwersten Krise

Politisch gesehen durchlebt die PA die schwerste Krise seit ihrer Entstehung. Zwar sind die Auslöser der Proteste im September 2012 von ökonomischer Natur, nichtsdestotrotz bergen sie aber vor allem auch Kritik an der Performance der gegenwärtigen Regierung. Im Zuge der Proteste wurden Stimmen nach einer verantwortungsvolleren Rolle der PLO bei der Kontrolle von Sozial- und Wirtschaftspolitik der PA laut, was das zentrale Augenmerk der Kritik auf die politische Misswirtschaft innerhalb der PA richtete. Die PA, die selbst ein verwaistes politisches Produkt des Abkommens von Oslo ist, kann zugleich als einer der grundlegenden Faktoren der gegenwärtigen Krise wie auch als ein leidtragender Akteur der Bedingungen der israelischen Okkupation begriffen werden. Diese Dualität der Zuschreibungen muss man mitdenken, wenn man die politischen Aspekte der Proteste im Westjordanland bewerten will.

Die politische Krise ist in vielfacher Hinsicht schwerwiegender als die sie auslösenden ökonomischen Faktoren. Erstens bedingt die Misswirtschaft der PLO-PA Konstellation der letzen Jahre größtenteils die wirtschaftliche Krise. Die Donor-Ökonomie, die unter der Fayyad-Regierung der letzten Jahre, speziell seit dem 2008 unterzeichneten PRDP, gefestigt wurde, bediente stets nur eine kleine politische Elite und ließ dadurch die palästinensische Bevölkerung größtenteils noch tiefer in die Armut abrutschen. Der erhoffte Trickle-Down Effekt blieb aus. Zweitens wurden speziell unter der Fayyad undemokratische Praktiken nicht nur toleriert, sondern explizit gefördert. Man erinnere sich an die Absetzung von Premierminister Ismail Haniyeh durch Mahmoud Abbas im Jahr 2007, woraufhin Salam Fayyad ins Amt gehoben wurde. Drittens wurden im Hinblick auf die Lokalwahlen in den Autonomiegebieten im Oktober 2012 politische Kämpfe zwischen Fatah, linken Fraktionen und Hamas sichtbar, da alle Fraktionen die Krise zu Gunsten ihrer Interessen nutzen wollen. Die PA ist seit längerem in einer Krise, die immer wieder unter den Teppich gekehrt wurde. Die politische Krise ist nicht nur Ausdruck lokalpolitischer Machtkämpfe, sondern auch Abbild eines gesamtpalästinensischen (oder nationalen, wenn man es so nennen will) Ringens um die Vormacht in der PA. Der Machtkampf zwischen Fatah und der Regierung unter Fayyad trägt entlang dieser Linien ebenfalls zur politischen Krise bei.

Die Tatsache, dass die ersten Flugzettel, die zu den Protesten aufriefen, an der Birzeit Universität, die sich etwas außerhalb von Ramallah befindet, von der StudentInnenfraktion der Fatah verteilt wurden, spiegelt viele der genannten Faktoren der politischen Machtkämpfe wieder. Die Fatah, so eine Deutungsweise der Proteste, ergriff die Gunst der Stunde, um den öffentlichen Missmut über die Situation in den Autonomiegebieten auf die aktuelle Regierung zu lenken. Der öffentliche Aufschrei diente der Fatah in dieser Hinsicht die eigenen politischen Interessen in den Vordergrund zu rücken. BeobachterInnen und den PalästinenserInnen selbst ist klar, dass hinter den Protesten im September vielfach Fatah-AktivistInnen eine bedeutende Rolle spielten. Durch den bereits angesprochenen Reifeprozess der Proteste wurden aber binnen weniger Tage auch Rufe gegen Mahmoud Abbas und die Fatah selbst laut. In diesem Reifeprozess war es dann nur mehr ein kleiner Schritt zur Kritik an der israelischen Okkupation selbst, dem Oslo-Abkommen und dem Paris-Protokoll. Auch die Hamas klinkte sich in die Proteste im Westjordanland ein. Sie versuchte womöglich den gesamten PLO-PA Machtkomplex zum Wanken zu bringen, um dann, bei einer möglichen Eskalation der Situation, im entstandenen politischen Vakuum ein Schlupfloch zurück in die PA zu finden. Auf einer anderen Ebene kann man die Involvierung von Hamas-AktivistInnen aber auch als eine Fortführung ihrer permanenten Kritik an der Politik der PA selbst bewerten.

Wenn beispielsweise Wasel Abu Yousef vom Exekutivkomitee der PLO von Fraktionen spricht[2. »PA ministers seek economic solutions after protests«. Ma`an News Agency am 11. September 2012. Abrufbar unter www.maannews.net/eng/ViewDetails.aspx?ID=519124] die versuchen, die Situation eskalieren zu lassen, versucht er in diesem Kontext das Licht von der aktuellen politischen Krise des PA-PLO Machtkomplexes weg zu lenken. Er spricht hier ganz konkret die Ausschreitungen in Hebron an und bringt damit die Hamas, die in Hebron relativ stark vertreten ist, stellvertretend für »Akteure von außerhalb« in die offizielle Erklärungslogik hinein. Diese Erklärungslogik, gekoppelt mit den ökonomischen ad-hoc Maßnahmen der Fayyad-Regierung, schaffte es Mitte September 2012 noch rechtzeitig die Krise zu entflammen und eine Eskalation zu verhindern. Die Frage, die sich hierbei stellt ist, wie lange diese fragile Ruhe aufrechterhalten werden kann.

Am Ende wird durch die Situation in Palästina generell – und im Westjordanland speziell – deutlich, dass es unter der israelischen Besatzung keine Entwicklung geben kann; weder wirtschaftliche noch politisch. Der 2008 unterzeichnete PDRP, der von Anfang an klar als ein Ausdruck der Okkupation zu verstehen war, wurde durch die Forderungen der Protestierenden umso mehr zur Chimäre dekonstruiert. Die mehr als berechtigte Kritik am Abkommen von Oslo und dem Paris Protokoll, die ihrerseits erst zum radikalen neoliberalen Schwenk und der strukturellen Ausformulierung neuer Kontrollmechanismen Israels über die Palästinensischen Autonomiegebiete führten, wirft aber auch Leerstellen auf. Nasser Ibrahim, ein palästinensischer Autor und politischer Kommentator, spricht an dieser Stelle von »Gefahren«, die die Proteste gegen das Abkommen von Oslo und das Paris-Protokoll in sich bergen.[3. Analyse der Proteste von Nasser Ibrahim in einem Interview mit dem Alternative Information Center vom 14. September 2012. Abrufbar unter www.alternativenews.org/english/index.php/multimedia/5266-in-depth-report-on-west-banks-protests.html.] Er verweist damit auf die Lösungsmechanismen der Krise, die, wenn sie deren Ursachen beseitigen wollen, in Wirklichkeit die Kräftebalance zwischen der PA und Israel und das Einfrieren des Friedensprozesses hinterfragen müssten. Der hierfür notwendige radikale Wandel, müsste alle Strukturen des Oslo-Abkommens und dessen nachfolgenden Abkommen umwerfen, was bedeutet, dass die israelische Okkupation selbst herausgefordert werden müsste. Für die Lösung der Krise reicht es nicht, technische Detailfragen zu klären, wie etwa die Mehrwertsteuer anzupassen oder ausstehende Löhne auszubezahlen. Diese seien nichts anderes als ein temporäres Schmerzmittel, die die PalästinenserInnen über kurz oder lang wieder in die Krise führen, so Ibrahim.

Es ist wichtig zu verstehen, dass während der Ereignisse in der Westbank im September 2012 neben Oslo und Paris auch die PA im Zentrum der Kritik stand. Obwohl Widerstand gegen die Herrschaftsstrukturen der PA ständig präsent ist (bei der Unterzeichnung des PRDP 2008 gab es beispielsweise auch heftige Proteste gegen die PA), gab die fragile wirtschaftliche Basis der PA ihnen im September aber eine neue Dynamik. Durch die hohe ökonomische Abhängigkeit vieler palästinensischer Haushalte von der PA – rund 160.000 PalästinenserInnen sind im öffentlichen Sektor beschäftigt – wurde ihre Politik von großen Teilen der Öffentlichkeit seit langem bis zu einem gewissen Grad toleriert. Dieser, beiden Seiten nützende, Puffer wurde durch die dramatische wirtschaftliche Situation durchbrochen. Vor allem auch durch die Nichtausbezahlung der BeamtInnenlöhne hat nun ein großer Teil der palästinensischen Öffentlichkeit, der lange im Hintergrund stand, begonnen, die korrupten politökonomischen Strukturen der Jahre seit Oslo und Paris zu hinterfragen.

Die existentielle Krise, die die PA durchlebt, wird sich auch nicht in Luft auflösen, wenn beispielsweise die ausstehenden Donorgelder für 2012 noch verfügbar gemacht werden würden. Angesichts der Faktoren, die zur aktuellen Krise geführt haben, ist davon auszugehen, dass die PA an zukünftigen Herausforderungen durchaus zerbrechen könnte.

This article was originally published in October 2012 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 3-2012.
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