Die Idee der Nation ist das bestimmende Denkmuster der politischen Realität der späten Neuzeit – ein Konzept an dessen Langlebigkeit vor ca. dreihundert Jahren kaum jemand geglaubt hat. Die „Erfindung der Nation“, wie es Benedict Anderson nennt trat einen bemerkenswerten Siegeszug an und löste alte Bezugssysteme wie das der Religion oder der Dynastie ab. Die „Heimat“ ist jenes mythische Synonym, das geläufige Assoziationen mit Authentizität und „zu Hause“ bzw. Identität und Gemeinschaft hervorruft.
Tatsächlich ist die Geschichte der Nation seit ihrer Erfindung ein einziges Blutbad. Es stellt sich die Frage wieso die „Nation“ – und damit „das Vaterland“ scheinbar jeglichen Globalisierungstendenzen trotzt. Die Idee einer abgegrenzten, kollektiven politischen Einheit hat sich in den letzten Jahrhunderten erfolgreich durchgesetzt und dient heute – wenn auch nicht konfliktfrei – als wesentliches Instrument der Herrschaftssicherung einerseits und gleichermaßen als Fundament für eine kollektive Identität andererseits. Eine interessante Auseinandersetzung mit Nation und Nationalismus findet sich im Falle der Türkei, insbesondere im Entstehen der türkischen Republik und der damit verbundenen Auflösung des Osmanischen Reiches. Der Zerfall sämtlicher kultureller und sozialer Bezugspunkte innerhalb kurzer Zeit verdeutlicht einerseits den Prozess der „Erfindung der Nation“ und andererseits lassen sich anhand der Türkei die Konsequenzen eines Nationalismus bis heute anführen. Anhand dieses Beispiels lassen sich die Thesen der „Konstruktion der Nation“ von konstruktivistischen bzw. marxistischen Wissenschaftlern wie Benedict Anderson oder Eric Hobsbawm ausgezeichnet nachvollziehen: Das Bekenntnis zu einer „anonymen Gemeinschaft“ und die damit verbundene Legitimation von Herrschaft wird durch die Konstruktion einer gemeinsamen Identität erreicht. Bildungswesen und Sprache spielen dabei bis heute eine wesentliche Rolle.
Die Türkei inszeniert sich gerne als Vorzeigemodell eines modernen, säkularen und islamischen Staates und als Paradebeispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Auch wenn der ökonomische und politische Höhenflug in letzter Zeit stagniert, gilt man immer noch als einflussreicher Player in der Region bzw. weltweit. Dabei vergisst man oft, dass das Fundament der türkischen Republik auf politisch wackeligen Beinen errichtet wurde: Das Verhältnis zu ihren Minderheiten bereitet der Türkei seit ihrer Gründung Kopfzerbrechen – vom Genozid an der armenischen Bevölkerung bis zu den Kämpfen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Nationalismus und Modernisierung
Das beginnende 20. Jahrhundert brachte nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches eine grundlegende Europäisierung der Gesellschaft mit sich: die Einführung des lateinischen Alphabets, Bildungs- und Kleidungsreformen, sowie religiöse Einschränkungen waren die offensichtlichsten Umgestaltungen der Kemalisten in den 1920er Jahren. Diese Änderungen erwirkten eine zunehmende Ablöse ehemaliger gesellschaftlicher Bezugssysteme und mussten durch neue ersetzt werden: der Sultan war nicht mehr Vorsteher der Umma und das Millet-System – wesentlich für die osmanische Gesellschaft – war zerfallen. Man benötigte eine neue, kollektive Identität an der seit mehreren Generationen gearbeitet wurde. Dabei handelte es sich nicht um einen linearen Prozess, sondern vielmehr um das Zusammenwirken unterschiedlichster Faktoren, die vereinzelt bis ins 17. Jahrhundert zurückgehen. Es existierte der Bedarf einer gesellschaftlichen „Sinnstiftung“, die zunächst durch einen Osmanismus und dann durch den türkischen Nationalismus erfüllt wurde. Damit traf man dem Nerv der Zeit – überall waren nationalistische Bewegungen im Aufwind – Unabhängigkeitsbestrebungen am Balkan und eine turko-tartarische Intelligenzija aus Russland begünstigten nationalistische Bewegungen in Anatolien. Die türkische Nation wurde mithilfe nationalistischer Eliten erfunden, deren Vorbilder in Europa und hier vor allem Deutschlands Romantik zu finden waren. Seine populistische Umsetzung, also der Transport dieser Idee in die Köpfe der Menschen fand unter Mustafa Kemal seinen Höhepunkt.
Dass man sich primär als Nachfahre eingewanderter Turkvölker verstand und nicht mehr als Mitglied irgendeiner religiösen, politischen oder ständischen Gruppe ist Resultat einer sukzessiven Nationalisierung, getragen von Eliten und transportiert durch Zeitungen und Institutionen wie Schule und Militär. Diese Rückwendung zur eigenen, heldenhaften Geschichte der Türken stellt noch heute eine Facette des türkischen Geschichtsunterrichts dar und ist vergleichbar mit dem 1000-Jahre Österreich Mythos, eine ebenso skurrile Interpretation nationalistischer Geschichtsschreibung und Identitätsstiftung.
Ne mutlu Türküm diyene
(Welch ein Glück, sagen zu können: „Ich bin ein Türke“)
Die Aussage Mustafa Kemals bezeichnet den exklusiven Charakter des türkischen Nationalismus einerseits und andererseits aber auch die Tatsache dass es sich nicht um einen rassistischen Nationalismus handelt. Ein Bekenntnis zur türkischen Identität ist dabei wesentlich, für andere Selbstverständisse ist dabei wenig Platz. Der zentrale politische Bezugspunkt in der Türkei ist die Nation bzw. die Republik. Einem nationalistischen Selbstverständnis folgend sind die BürgerInnen des Landes TürkInnen – und zwar ausschließlich.
Die Ursache liegt in der spezifischen Form eines Nationalismus, der Fundament für die türkische Republik ist und als notwendig erachtet wurde, um einen klaren Bruch mit der multi-ethnischen bzw. multi-religiösen Tradition des Osmanischen Reiches zu erwirken.
Türkei heute: Die Kemalisten auf dem absteigenden Ast?
Die laizistische, republikanische und nationalistische Ausrichtung der Türkei stellt damit kein kurzfristiges Phänomen dar, sondern ist fest in der nationalen türkischen Identität verankert.
Die Problematik im Umgang mit Minderheiten ergibt sich also aus einem eigenen Selbstverständnis, das ethnische Gruppen bis heute schlichtweg ignoriert oder zumindest marginalisiert. Heute bröckelt jedoch die streng nationalistische und laizistische Ausrichtung der Türkei, besonders durch. Derzeit zeichnet sich ein Wandel ab, der die Grundpfeiler der Türkei ins Wanken bringt. Politische Entwicklungen, wie etwa der jüngst geschlossene Waffenstillstand bzw. die Verhandlungen mit der PKK deuten auf eine gesprächsbereite türkische Regierung hin, jedoch bleiben die PKK-KämpferInnen „Terroristen“. Politische Gespräche werden nichts Grundlegendes ändern: Möchte man sein Verhältnis zu ethnischen Gruppen neu definieren, wäre eine bedeutende Revision der eigenen Geschichte und damit verbunden der türkischen Identität vonnöten. Die derzeitige Erosion kemalistischer Traditionen findet nicht im Bereich der Minderheitenpolitik statt, sondern eher in religiösen Belangen.
Grundsätzlich stellt sich die Frage ob und vor allem welche Auffassungen einer Nation vertreten werden – besonders hinsichtlich Minderheitenrechte und so genannter „kultureller Diversität“ – auch in Hinblick auf die Entwicklungen in der arabischen Welt.
Es bleibt ungewiss ob das Konzept der Nation – in welcher Form auch immer –zukunftsträchtig ist. Die kommenden Herausforderungen für die Menschheit in ihrer Gesamtheit verlangen eher nach einer solidarischen globalen Gemeinschaft – und diese kann ebenso ruhmreich und heldenhaft sein wie die alten ProtagonistInnen nationaler Geschichtsschreibung.
Shabka Background Nr. 1-2013
Paul Winter: Die Entstehung des türkischen Nationalismus im Osmanischen Reich