Die Moderne, eine Epoche der Menschheitsgeschichte, welche die International Relations (IR) oftmals mit dem Westfälischen Frieden von 1648 und damit dem Beginn des modernen souveränen Staates beginnen lässt, wurde weitläufig zu einem Synonym der Emanzipation gegenüber des göttlichen Herrschaftsanspruches.
Auch wenn zweifelsohne darüber Diskussionsbedarf besteht, inwiefern die Religion ihre Macht einbüßen musste oder doch eher in subtilerer Weise in den sich neu formierenden Staatspraxen – den sozialen, den ökonomischen, den militärischen – eingegangen ist, ein Staatsoberhaupt auf einem Canossagang anzutreffen, wäre wohl nunmehr undenkbar.
Dieses moderne Denken trat also mit dem Versprechen „[…] von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“ (Horkheimer/Adorno 2006 S.9) in die neue Zeit ein, wie Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ festhielten. Schließlich soll „[…] der Verstand, der den Aberglauben besiegt, […] über die entzauberte Natur gebieten“ (Horkheimer/Adorno 2006 S.10) und endet in einer entmystifizierten Welt, in der sogar Gott für tot erklärt werden konnte. In einem weitläufigen Verständnis bedeutet also die Moderne die Verbannung göttlicher Macht in die Sphäre des Privaten ebenso wie rechtsstaatliche Errungenschaften wie BürgerInnen- und Menschenrechte. Als solche waren diese nunmehr nicht von Gottes Gnaden abhängig, sondern entsprangen einer anthropologisch- idealistischen Vision. Garant für Aufrechterhaltung und Durchsetzung sollten die sich neu formierenden Nationalstaaten werden.
Westliche Gesellschaften sehen sich dabei selbst als Repräsentanten dieses Ideals, eines, das nicht bloß für Politik und Gesellschaft, sondern auch für die Wissenschaft Konsequenzen mit sich bringen sollte – so auch für die International Relations.
Religion als analytische Kategorie in den International Relations
Dem modernen Staatensystem und der scheinbaren Verbannung des Religiösen ins Private Rechnung tragend, schenken die großen Schulen der IR Religion als analytische Kategorie wenig Beachtung. Während der Realismus den rational agierenden Nationalstaaten den Vortritt gegenüber irrationalen Religionsgemeinschaften einräumt, gehen dem Idealismus Vorstellungen von universellen Werten, abseits religiöser Rechtfertigungen, voraus. Dementsprechend schwer fällt es auch den International Relations, auf scheinbar religiöse Akteure und deren Rechtfertigungsmustern einzugehen. Einem solchen Analyserahmen ist die Vorstellung, dass ein politischer Akteur religiös motiviert sein kann oder ein religiöser Akteur politische Ambitionen haben könnte, völlig fremd.
Spätestens nach dem 11. September 2001 war die IR jedoch dazu gezwungen, sich den scheinbar neuen Realitäten auf der internationalen Bühne anzunehmen. Samuel Huntingtons These vom Kampf kultureller Blöcke, erstmals erschienen 1993 in Foreign Affairs, war zurück auf der akademischen Bühne: Seine These sollte schließlich kulturelle Blöcke als Hauptakteure der Internationalen Beziehungen gegenüber den Nationalstaaten positionieren. Huntingtons homogenisierender und naturalisierender Kulturbegriff und seine Vorstellung von Religion als lediglich formale Aspekte ließen ihn schließlich von den blutigen Rändern des Islams erzählen, die sich aus kulturspezifisch- gewalttätigen Elementen der islamischen Kultur ergeben würden. Huntington sah dabei speziell einen Konflikt zwischen dem islamischen und dem westlichen Kulturkreis entstehen. Empirische Befunde, wie etwa der Global Terrorism Index, entkräfteten die These Huntingtons. So waren es im Jahr 2015 der Irak, Afghanistan, Nigeria, Pakistan und Syrien die vom Ausmaß terroristischer Anschläge am stärksten betroffen waren und nicht etwa Frankreich oder Belgien, auch wenn die mediale Berichterstattung etwas anderes vermuten lassen könnte!
Alte Leier neue Spieler?
Heute, 15 Jahre nach 9/11 und Huntingtons Höhepunkt, ist die These von einem Zusammenprall kultureller Blöcke nicht mehr haltbar, das weiß auch der Journalist Graem Wood. Dennoch zeigen sich auch bei Wood und seinem viel beachteten Artikel „What ISIS Really Wants“, ähnliche analytische Schwächen. So wird die heute oft diskutierte Frage nach der ideologischen Ausrichtung salafi-dschihadistischer Gruppierungen in der Literatur oftmals an die Frage, wie islamisch diese eigentlich sind, gekoppelt und ob die barbarisierten Gewaltpraxen, das Kreuzigen und Händeabhacken, nicht doch viel eher einer mittelalterlich oder vor-modernen Ideologie entspringen würden. In Woods Worten:
„There is a temptation to rehearse this observation—that jihadists are modern secular people, with modern political concerns, wearing medieval religious disguise—and make it fit the Islamic State. In fact, much of what the group does looks nonsensical except in light of a sincere, carefully considered commitment to returning civilization to a seventh-century legal environment, and ultimately to bringing about the apocalypse.” (Wood 2015)
Die Frage nach der Ideologie fundamentalistischer Gruppierungen steht in diesem Aufsatz im Vordergrund.
Parallelwelten moderner Ideologien
Ideologie ist weit mehr als die zahlreichen Ismen, die uns in Form von Weltanschauungen und Welterklärungsversuchen begegnen, sie reicht in die Tiefe der sozialen und politischen Beziehungen hinein. Unter Ideologie möchte ich folglich eine, das soziale Leben und die politischen Institutionen strukturierende Matrix verstehen, die von einer Mehrheit der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen bewusst oder eben auch unbewusst getragen wird. So geht etwa das Berger/Luckmann-Modell davon aus, dass Ideologien die gesellschaftliche Wirklichkeit konstruieren und somit auch die Entstehung politischer Institutionen gerechtfertigt wird. Auf den Zusammenhang von Ideologie als gelebte Praxis und ihren Institutionen als ihre materielle Existenz wies bereits Althusser hin. Auch strukturieren Ideologien unser Verständnis von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit sowie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Diese Feststellung ist für diesen Themenkomplex von großer Bedeutung, da sie dem Individuum sowie der Gruppe eine Orientierung und Positionierung in der Welt erlauben – Ideologien verweisen somit das Individuum auf seinen Platz in Raum und Zeit.
Um jedoch ein Verständnis des modernen oder eben vor-modernen Charakters einer bestimmten Ideologie zu erlangen, bedarf es einer Klärung, was unter der Moderne überhaupt zu verstehen sei.
Dieser Frage möchte ich mich von einem weiteren möglichen Ausgangspunkt der Moderne nähern, den Peter Berger sowie Shmuel Eisenstadt, Max Weber folgend, in einer Änderung technologischer Produktionsverhältnisse – also der Industrialisierung – vermuten. Über den Ausgangspunkt der Moderne schreibt Peter Berger: „Modernisierung ist die institutionelle Begleiterscheinung des durch die Technik herbeigeführten wirtschaftlichen Wachstums.“ (Berger/Berger/Kellner 1975 S.14) Doch nicht bloß auf der institutionell- strukturellen Ebene lassen sich Veränderungen nachzeichnen, auch auf der Ebene des Bewusstseins kam es zu einem tiefgreifenden Wandel.
Eisenstadt spricht von ideologischen und institutionellen Prämissen, die das kulturelle Programm der Moderne enthält: So werden die sozialen, politischen und ontologischen Ordnungen nun nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern zum Gegenstand einer Reflexion. Dem entstehenden Bewusstsein, dass die Gesellschaft, die sozialen Rollen der einzelnen ProtagonistInnen und ihre politischen Institutionen, vom Menschen selbst erschaffene sind, entspringt auch der emanzipatorische Funke, jene als ungerecht empfundenen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen zu verändern, zu brechen, um sie schließlich zu ersetzen.
Moderne Versprechen
Dieses beispiellos selbstermächtigende Moment der Moderne – in dem es einem Tellerwäscher, der nun nicht mehr an seinen Stand gebunden zu sein scheint, gelingen kann, zum Millionär zu werden – wird jedoch im Versuch seiner Aktualisierung auf eine ernüchternde Realität verwiesen. Denn spätestens seit Thomas Piketty und seinem „Kapital im 21. Jahrhundert“ wissen wir, dass man durch Lohnarbeit kaum reich werden kann, sondern durch die Vermehrung von Besitz – und dieser wird, gleichsam eines Adelstitels, eben vererbt.
Die Naturalisierung von Mensch, Natur und Kosmos von der Eisenstadt weiters sprach, entspricht auch der Bewusstseinsänderung Bergers: So wird nunmehr die Wirklichkeit als Gesamtheit verschiedener in sich geschlossener Komponenten – atomistischer Einheiten – begriffen, die auf unterschiedliche Weise zusammengefügt werden können. Das Resultat einer solchen Wirklichkeitskonstruktion für die ökonomische Produktion ist beispielsweise die Entfremdung des einzelnen Arbeiters vom eigentlichen Zweck oder Ziel seines Arbeitsaufwandes. In dieser Realität erfährt sich der Einzelne als völlig austauschbar. Daraus folgt laut Berger auch eine Anonymisierung der sozialen Beziehungen. Ein Freund oder Kollege ist somit nicht mehr nur Individuum mit unverkennbaren Eigenschaften, sondern auch austauschbare Arbeitskraft.
Schließlich ermöglichten es technologische sowie wissenschaftliche Errungenschaften, die Natur zu studieren, sie in ihre Einzelteile zu zerlegen, sie schließlich zu beherrschen und für gemeinschaftlich- und scheinbar visionäre Zwecke dienbar zu machen. Die angesprochene Loslösung des Menschen aus seiner Natur wäre eben die entsprechend moderne Bewusstseinsänderung mit all ihren positiven wie negativen Begleiterscheinungen.
Die Wiederkunft des Vergangenen und das Ende der Geschichte
Was die ideologische Konstruktion von Raum und Zeit betrifft, kommt es in der entsprechenden Literatur, wie ich mit Wood versucht habe exemplarisch darzustellen, schnell zu voreiligen Schlüssen. So finden sich in vielen salafi-dschihadistischen Propagandaschriften Rhetoriken wieder, die von katastrophalen Flutwellen, Steinigung oder der Zerstörung der Ernte des Feindes sprechen und rasch an martialische Bibel- oder Koranstellen erinnern. Speziell jedoch der Anspruch des Islamischen Staates, die erste Periode des Islams, die als unverfälscht und rein gilt, wieder beleben zu wollen, sorgt für Verwirrung.
„Für all diejenigen, die das Phänomen des IS und sein Anspruch, die Wiederkehr der ersten Periode des Islams zu sein, verwirrt, […]“ schreibt Rüdiger Lohlker in seinem neuen Buch „Theologie der Gewalt. Das Beispiel IS“ „[…] sei mit Walter Benjamin daran erinnert, dass eine solche Wiederkehr des Vergangenen ein Phänomen der Krise der Moderne ist und nicht als ein äußerer Feind klassifiziert werden kann: „„Der Gedanke der ewigen Wiederkunft macht das historische Geschehen selbst zum Massenartikel. Dies Konzeption trägt aber auch noch in anderer Hinsicht – man könnte sagen: auf ihrer Rückseite – die Spur der ökonomischen Umstände, denen sie ihre plötzliche Aktualität verlangt. Diese meldete sich in dem Augenblick an, da die Sicherheit der Lebensverhältnisse durch die beschleunigte Abfolge der Krisen sich sehr verminderte.““ (Lohlker 2016 S. 12-13)
Auf den Zusammenhang sozioökonomischer Faktoren, der damit oft eingeschränkten sozialen Mobilität und deren Bedeutung in den Radikalisierungsdebatten, habe ich bereits durch einen Verweis auf Fathali Moghaddam in einem Shabka-Artikel aufmerksam gemacht. Ich möchte mich in dieser Aufsatzserie jedoch weniger auf die strukturellen – die sozioökonomischen – Elemente konzentrieren, sondern vielmehr auf die, mit diesen – und schließlich auch mit dem handelnden Subjekt – in Verbindung stehende Ideologie.
Jene Wiederkehr des Vergangenen, von der nun Benjamin sprach, diese scheinbar plötzliche Aktualität rückwärtsgewandter Ideologien ist auch aus einer anderen Perspektive interessant: Denn die Wiederkunft des Vergangenen geht oftmals Hand in Hand mit endzeitlich- apokalyptischen Vorstellungen. So hält Eisenstadt fest:
„Die Fundamentalisten verkünden ontologische Vorstellungen, die dem Bemühen entspringen, Raum und Zeit gemäß ihren utopischen Visionen zu konstruieren. Diese enthalten oft eschatologische Elemente, mit denen sie sich als das Ende der Geschichte deklarieren, und eine messianische Erlösungsbotschaft, mit der sie oft auf eine drohende Katastrophe antworten.“ (Eisenstadt 1998 S.11)
Doch spricht nicht auch Francis Fukuyama – ein Vertreter der neo-liberalen Modernisierungstheorie – von einem Ende der Geschichte, konstruiert er nicht auch Raum und Zeit entlang utopischer – wenn gleich neo-liberaler – Vorstellungen und heißt ihm diese Vorstellung nicht auch die Überwindung aller Widersprüche und die Befriedigung aller Bedürfnisse? Bedeutet ihm nicht auch der Sieg des neo-liberalen Gesellschaftsmodells den Frieden und erinnert so in einem abstrakten Sinne an den dar-al-salam, das Haus des Friedens, welches nur die Umma gewährleisten kann? Und möglicherweise heißen ihm auch die freie Marktwirtschaft und die liberale Demokratie den säkularen Messias.
Moderner Fundamentalismus
Eisenstadt bewegt sich mit seiner Arbeit im Spannungsfeld der großen „Welterneuerungsthesen“ der Jahrtausendwende, die u.a. durch Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ oder Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ repräsentiert werden. In ihrer Ablehnung positionierte Eisenstadt seine These der vielfältigen Entwicklungen mehrerer Modernen. Dabei hat sich ein modernes ideologisches Verständnis kulturübergreifend ausgebreitet und mit verschiedenen vor-modernen Traditionen verbunden, was zu einer heterogenen Entwicklung verschiedener moderner Kulturen führte. Daraus ergibt sich, laut Eisenstadt, dass auch fundamentalistische Bewegungen, ja sogar jene, die sich in Ablehnung zur Moderne positionieren und diese zu ihrem Feind erklärten, in ihrem ideologischen Kern durchaus modern sind. So schreibt er beispielsweise in „Der Fundamentalismus als moderne Bewegung gegen die Moderne“:
„Die Hauptmerkmale der modernen fundamentalistischen Bewegungen ergeben sich daraus, dass einige der strukturellen und ideologischen Merkmale – besonders die sektenhaften utopischen Orientierungen – der protofundamentalistischen Bewegungen unter den Auspizien der Moderne verändert wurden.“ (Eisenstadt 1998 S.11)
Speziell die jakobinisch- totalitäre Seite der Moderne wurde von den fundamentalistischen Bewegungen vereinnahmt.
„Die fundamentalistischen Bewegungen gehören zu den Trägern und Verkündern der modernen jakobinischen Komponenten und Orientierungen, und sie setzen solche jakobinischen Orientierungen gegen eher traditionale Lebensstile durch, indem sie die ideologische Formulierung ursprünglicher Traditionen in ein umfassendes und grundsätzliches Organisationsprinzip verwandeln.“ (Eisenstadt 1998)
Jene jakobinischen Elemente sieht Eisenstadt unter anderem in dem Wunsch, die politischen Zentren gemäß einer idealisierten Vision zu verändern, wobei es zu einer stetigen Vermischung zwischen Zentrum und Peripherie kommt. Die Erneuerung des Zentrums geht mit einer stetigen Grenzüberschreitung einher. Der daraus resultierende missionarische Expansionismus ist eine weitere Folge daraus. Auf Basis dieser idealistischen Vision knüpft auch der Wunsch, Gesellschaft und ihre politischen Institutionen erneuern zu wollen, an. Der Versuch der Veränderung entlang dieser utopischen Vision führt auch dazu, dass die Grenz- und Regelverletzungen, Eisenstadt spricht hier von Liminalität, zum eigentlichen Gegenstand der politischen Auseinandersetzung geworden sind. Dies ist stark mit der ihr innewohnenden Bedeutung von Gewalt verbunden, einer Gewalt, die nicht mehr bloß Mittel zum Zweck ist, sondern eine ideologische Rechtfertigung bis hin zu einer sakralisierten Form im Sinne eines direkten Wunsch Gottes, des Volkes oder der Nation wird. Totalisierung wäre ein weiteres Kennzeichen des modernen Projektes. Das Streben hin zu der einen Version des Guten wird so ermöglicht.
Somit scheint der Anspruch des IS, die erste islamische Periode wieder beleben zu wollen, von der ich unter Bezug auf Rüdiger Lohlker sprach, tatsächlich etwas zutiefst Modernes zu sein. Schließlich schöpft das dschihadistische Projekt seine Kraft aus einer tief empfundenen Frustration gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Kalifat bietet schließlich den scheinbar visionären Rahmen, um die als ungerecht geächteten politischen Zentren zu reformieren.
Ich habe diese Aufsatzserie mit dem Ziel begonnen, auf die Parallelwelten der Moderne aufmerksam zu machen: jene, die Emanzipation versprachen und neue Abhängigkeit schufen, die neue Lebensräume kreierten und andere zerstörten, die Gerechtigkeit forderten und Ungerechtigkeit entstehen ließen – die Rede ist von jenen Krisen der Moderne, in welchen der Fundamentalismus seine Geburtsstunde fand.