Laut Berichten von Europol haben sich in den letzten Jahren zwischen 3.000 und 5.000, meist junge EuropäerInnen, transnationalen dschihadistischen Gruppierungen im Nahen und Mittleren Osten angeschlossen, um sich als Gotteskrieger zu verdingen. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung sind aus Österreich 230 Personen den hasserfüllten Rufen Al-Baghdadis und seiner Konsorten gefolgt.
Jene homegrown terrorists zeichnen sich speziell durch die Barbarisierung ihrer Gewaltpraxen aus und versetzten Europa in eine regelrechte Schockstarre, in der ja bekanntlich klares Denken und Handeln regrediert. In dieses Vakuum selbstreflexiven Denkens traten rasch die „Kronzeugen der Inkompetenz“, wie ausgewiesene Islamkritiker von Ingrid Thurner in einem Presse-Artikel genannt wurden. Mit immer lauterwerdender Stimme, bei gleichzeitiger Abnahme des Sachverständnisses, bereiteten sie somit den Boden eines, die gesamte Gesellschaft und auch die Politik, durchdringenden Diskurses und schufen somit einen monolithischen Block mit der Aufschrift „Der Islam“. Nun sind jedoch Diskurse weitaus weitreichender als Diskussionsbeiträge in Zeitungen oder Sonntagsreden von Politikern, vielmehr sind sie Struktur unseres Denkens und Handelns, man möchte fast sagen, sie gehen uns in Mark und Bein über, sie begleiten, sie erzeugen unser tägliches Leben. Das handelnde Subjekt wiederum erschafft, stützt und reproduziert den handelsanleitenden Diskurs durch seine diskursive Praxis alltäglichen Lebens. Jene diskursive Kraft vermag es sogar, soziale Sub-Gruppen samt ihren sozialen Identitäten entstehen zu lassen, wo es diese vorab in dieser Form nicht gab.
Die Konfrontation mit – in europäischen Nationalstaaten sozialisierten – Dschihadisten, die in Dschihadi-John ihre Verkörperung erfahren zu haben scheinen, aber auch die Schreckenserlebnisse von 9/11 können wohl als eine Art Zäsur, der angesprochenen diskursiven Praxis, betrachtet werden. Anders ausgedrückt: War vor 9/11 noch eher eine Pluralität islamischen Lebens bekannt, so werden nunmehr all diese ehemaligen sozialen Gruppen und Kategorien zu einem monolithischen Block mit dem Label Islam zusammengefasst. Dieser folgenschwere Diskurs wird jedoch nicht bloß von den üblichen Verdächtigen – den Rassisten und Rechtspopulisten – getragen, es sind auch die Liberalen, Linken, all jene, die sich Toleranz und Respekt auf ihre Fahnen schreiben, die diesen Diskurs tagtäglich reproduzieren. Die Intoleranz der Rechten gegenüber anderen Kulturen und Lebenswelten wird in ihrer Umkehrung zur bedingungslosen Toleranz all jener, deren Mägen durch die propagierte Gefahr im Islam schon so sehr übersäuert sind. Doch auch bedingungslose Toleranz vermag es nicht, die Pluralität islamischen Lebens anzuerkennen, vielmehr scheint sie sich als Selbstzweck zu genügen. Das Individuum, dem auch noch soviele Herzen in der Brust schlagen mögen, wird unweigerlich zum Repräsentanten einer gesamten Kultur. Die züchtende, jegliche Pluralität des Lebens missachtende (kulturelle und strukturelle) Gewalt ist in diesem Diskurs omnipräsent. Der Psychoanalytiker Sama Maani hat ausführlich in seinem Buch „Respektverweigerung – Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht“ auf diese Problematik hingewiesen.
Eine 2015 veröffentlichte Studie von Europol, die von einem signifikanten Anstieg islamophober Ereignisse spricht, bestätigt die stetige Anfeindung der als Repräsentanten des Islams Zwangsverpflichteten. Nach den Sozialpsychologen Tajfel und Turner reagieren soziale Gruppen, die ihren Status gefährdet sehen, mit Strategien wie etwa dem Wechsel sozialer Gruppen oder Positionen. Die Möglichkeit zwischen sozialen Positionen wechseln zu können, setzt jedoch eine entsprechende soziale Mobilität voraus. Äußere Zuschreibungen, die Gruppen an Hand von biologischen Merkmalen oder an Hand des Herkunftslandes (auch das der Eltern/Großeltern) erdichten, lassen keinerlei Mobilität zu. Als Reaktion auf die verunmöglichte soziale Mobilität kann es zu einer Überidentifizierung mit distinktiven Merkmalen wie etwa der Kultur oder der Religion des Herkunftslandes der Eltern oder der Großeltern kommen – niemand kann sich so einfach der diskursiven Praxis entziehen. Grund für diese Strategien ist aus sozialpsychologischer Sicht der Wunsch jedes Individuums nach einem positiven Selbstbild. Selbstbilder stehen jedoch nicht für sich alleine, sie sind immer durch soziale Rollen und Kategorien geprägt – sie werden relational zueinander verhandelt.
Besondere Bedeutung erlangen diese Beobachtungen in der Radikalisierungsdebatte, da eine verunmöglichte soziale Mobilität, wie bereits in Anlehnung an die Forschung von Tajfel und Turner beschrieben, eine Überidentifizierung mit der vermeintlich eigenen Gruppe bewirkt und lediglich den sozialen Wettbewerb als einzig mögliche Strategie kennt. Dieser kann in extremen Formen in einem gewaltsamen Konflikt münden. In ähnlicher Weise argumentiert Fathali Moghaddam, Psychologe der George Town University, in seinem Staircase Modell. Die Radikalisierung eines Menschen bis hin zu einem terroristischen Anschlag oder dem Eintritt in eine terroristische Gruppe beschreibt Moghaddam als einen fünfstufigen Prozess. Die erste Stufe ist dabei von der Überzeugung einer Gemeinschaft getragen, dass diese weitgehend faire Chancen bietet bzw. dass eine Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Prozessen gewährleistet ist. Ist dies nicht mehr der Fall bzw. ist die soziale Mobilität weitgehend eingeschränkt, beginnen einige wenige Individuen, die weiteren Stufen dieser Radikalisierungstreppe hinaufzusteigen. Die fünfte und letzte Stufe in Moghaddams Theorie ist der Terrorismus. Positiv zu bewerten an seiner Theorie ist, dass er seinen Fokus auf sozioökonomische Faktoren und gesellschaftspolitische Schieflagen richtet. Durch sein Staircase Modell scheint er auch eine Erklärung gefunden zu haben, warum sich lediglich ein geringer Prozentsatz aus einer Masse an meist jungen Menschen mit ähnlichen Voraussetzungen radikalisiert. Denn in seinem Modell finden sich in der nächst höheren Stufe immer weniger Individuen zusammen. Negativ zu bewerten ist seine strukturalistisch- lineare Herangehensweise, die der Pluralität menschlichen Lebens wohl kaum gerecht werden kann. Wir können an dieser Stelle bereits einen Zusammenhang zwischen einem gesellschaftspolitischen Diskurs, der daraus resultierenden Einschränkung der sozialen Mobilität bestimmter Gruppen und den damit einhergehenden Radikalisierungsprozessen erkennen. Es kommt auch deutlich zum Vorschein, dass Extremismus oder Fundamentalismus keine kulturellen oder religiösen Probleme sind. Vielmehr sind sie hausgemachte Probleme, gestützt und immer wieder von Neuem erzeugt von einem doch so gefährlichen Diskurs, der die Teilhabe bestimmter sozialer Gruppen an sozialen und politischen Prozessen erschwert oder gar verhindert. Wer also den Terrorismus erfolgreich bekämpfen möchte, der sollte sich zuerst der diskursiven Spirale der Gewalt stellen.
Diese gesellschaftspolitischen Problemlagen werden ausführlich am 15. Oktober in dem Seminar „(De-)Radikalisierung – Gewalt und Ideologie“ angesprochen werden. (Anmeldung und Fragen unter [email protected])