Die rasanten Gebietsgewinne der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) im Sommer 2014, sowie die jüngsten Terroranschlägen von Paris, verweisen auf ein Gemengelage transnationaler Gruppierungen sowie auf eine diffuse Entgrenzung der Gewalt. Europäische Zivilgesellschaften und staatliche Institutionen stehen nun vor der Herausforderung, Antwortmöglichkeiten auf die Radikalisierungsdynamiken in den europäischen Gesellschaften zu finden.
Die medial und auch politische Abgrenzung europäischer „Kulturnationen“ von dem Islam aber auch rein sicherheitspolitische Betrachtungen, welche die „Schuld“ am post-modernen Dschihadismus in den fragilen Staatlichkeiten im Nahen und Mittleren Osten verortet sehen, gehen ins Leere. Vielmehr erzeugen diese Diskurse ein kollektives Gedächtnis der Unsicherheit welches sich auf mögliche Handlungsstrategien negativ auswirken kann.
Sicherheit wurde in den letzten Jahren zu einem der zentralen Wertebegriffe unserer europäisch-westlichen Gesellschaft und avancierte schließlich zu einem Synonym für Frieden. Johann Galtung spricht in diesem Zusammenhang von einem „negativen Frieden“, der in der Abwesenheit von physischer Gewalt – speziell in seiner militarisierten Form – verortet wird. So wird Internationale Sicherheit unter diesem Gesichtspunkt verstärkt mit dem Begriff Weltfrieden gedacht. Dieser Paradigmenwechsel spiegelt eine Veränderung in der Wahrnehmung von politischen Problemlagen und dem subjektiven Sicherheitsbewusstsein in den westlichen Gesellschaften wider. Christopher Daase spricht hier von einem „Wandel der Sicherheitskulturen“ und meint damit die Veränderung in den Überzeugungen und Praktiken von Staaten, Gesellschaften und Individuen, was diese als Gefahren ansehen und wie diesen zu begegnen sei.
Diese Veränderungen, werden auch von den Ereignissen an der europäischen Peripherie bedingt. So werden europäische Heimkehrer, die sich dschihadistischen Gruppierungen in Syrien und dem Irak angeschlossen haben sollen sowie die durch den arabischen Frühling ansteigenden Flüchtlingszahlen medial aufgegriffen und sorgen für eine veränderte Sicherheitswahrnehmung. Mediale sowie politische Diskurse sind heute vermehrt von angstgetriebenen Sprachen geprägt, die ganz in der Tradition der vermeintlich klaren Weltordnung des Kalten Krieges, einen Kampf der Kulturen zwischen dem modernen Westen und einem angeblich anti-modernen Nahen und Mittleren Osten propagieren. Dass weder der Islam noch der Islamismus oder seine militante Form – der Dschihadismus – eine anti-moderne Bewegung, im Sinne einer nicht von der Moderne berührten ist, bleibt meist vernachlässigt. Vielmehr handelt es sich jedoch bei islamistischen Gruppierungen um gegen-moderne Bewegungen, deren Geburtsstunde sich eben in der Moderne verorten lässt und als Reaktion auf diese und ihre immanenten Probleme entstanden ist. Eine höchst verunsicherte Gesellschaft und eine angstgetriebene Politik sind Resultat eines solch verkürzten Diskurses.
Die am 16. November 1945 verabschiedete Verfassung der UNESCO nimmt bereits Bezug auf diese Problematik. „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.“ Folgerichtig sieht Wolfgang Dietrich auch den Geist als Ursprungsort für Unsicherheit und Sicherheit. Auch ist Sicherheit nicht objektiv fassbar, vielmehr ist es ein Zustand, der von einem Kollektiv relational verhandelt wird. Der Sicherheitsdiskurs mit dem wir uns heute konfrontiert sehen, trägt somit maßgeblich zu einem Gefühl der Unsicherheit bei. Die medial propagierten Bilder von Terror lassen sich nicht so einfach vergessen und können unbewusste Ängste aufrufen und erschaffen aus ihrer eigenen Logik heraus eine Wahrheit der Unsicherheit und der stetigen Terrorgefahr. Das real Erlebte, basierend auf Sinneseindrücken des erfahrenden Individuums, welches wohl in den meisten Fällen niemals Terror hautnah erlebt hat, bleibt zurück. Rechtfertigung und Bestätigung erfahren die angstgetriebenen Psychen durch das von Medien und Politk gebetsmühlenartige Wiedergeben dieser Bilder. Die empfundene Angst und das vorgestellte Leiden löst jedoch noch eine weitere schwerwiegende Dynamik aus, die es an dieser Stelle zu erwähnen gilt. Terroristische Anschläge, wie wir sie Anfang des Jahres 2015 in Paris beobachten konnten, lassen erkennen, dass das mitleidende und betroffene Kollektiv weit über das direkte Beziehungsgeflecht der Opfer herausragt. Ähnlich wie bei den Anschlägen von 9/11 wurde die Leiderfahrung auf eine vorgestellte Gemeinschaft des Westens übertragen und wirkte für diese festigend und sinnstiftend. Der Aufruf „Je suis Charlie“, der durch ganz Europa geisterte, steht hierfür sinnbildlich. An dieser Stelle fällt auch Friedrich Nietzsches „Mnemotechnik des Schmerzes“ wieder ein, die dem Schmerz einen besonderen Stellenwert bei der Erschaffung von Gruppen durch das Einschreiben einer kollektiven Leiderfahrung in das Gedächtnis zuteilwerden lässt. ,,Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis.“ Aus dieser Logik heraus lässt sich der bereits angesprochene Kampf der Kulturen erklären, an dessen traurigem Ende zwei scheinbar unvereinbare Kollektive verortet werden können.
Wolfgang Dietrichs „Plädoyer für eine angstfreie Sicherheitspolitik Europas“ ist hier als wichtiger Ansatzpunkt zu nennen. Die politischen Verantwortungsträger sowie die medialen Meinungsbilder sollten daher aufgerufen werden, einen weniger ängstlichen Kommunikationsstil zu wählen. „Wem es ein Anliegen ist, den Terrorismus zu überwinden, der muss sich dieser kommunikativen Schraube der Gewalt entziehen, nicht sie nähren.“
Der Kampf gegen den Terrorismus kann sich in weiterer Folge auch nicht alleine mit der Herstellung von Sicherheit im Sinne des bereits erwähnten „negativen Friedens“ beschäftigen, da Frieden weit mehr als die Abwesenheit physischer Gewaltanwendung ist. Die Erweiterung des Friedenskonzepts hin zu einem „positiven Frieden“, der auch die Abwesenheit von Gewalt in den politischen und gesellschaftlichen Strukturen als wichtiges friedensstiftendes Element anerkennt, ist von besonderer Bedeutung. Für die Analyse von Radikalisierungsprozessen ist diese Erkenntnis ebenfalls eine wichtige.
Dies wird auch Gegenstand eines am 15. Oktober stattfindenden Seminars im Seminarraum des Au Cafes unter dem Titel „(De-)Radikalisierung – Gewalt und Ideologie“ sein. Dabei sollen aus den Blickwinkeln von PolitologInnen, PsychologInnen sowie SozialarbeiterInnen Radikalisierungsdynamiken auf gesellschaftlicher sowie individueller Ebene beleuchtet und diskutiert werden.