Shereen El Feki schafft es in Sex und die Zitadelle Einblicke in arabische Lebenswelten durch Menschen mit verschiedensten Hintergründen zu geben. Das besondere daran ist, dass sie dadurch nicht nur Einblicke in heikle Themen bietet, sondern der Grundtenor – allen Vorzeichen trotzend – durchaus optimistisch scheint. Obendrein stellt diese Herangehensweise für LeserInnen einen günstigen Zeitpunkt dar, über den eigenen Umgang mit Sexualität nachzudenken. Unterm Strich wird klar, dass der Umgang mit Sexualität in der arabischen Welt eines ausgewogenen Pro und Contras bedarf anstatt einer polarisierenden, einseitig bestimmten Debatte. Und das stellt nicht nur eine Herausforderung für eine Region dar, die früher gerne als Sex-Oase im Wüstensand dargestellt wurde (liest man beispielsweise die Reisetagebücher eines Gustave Flaubert), sondern lässt sich für jeden erdenklichen Erdteil sagen.
Das Notwendige und Wichtige das Sex und die Zitadelle vollbringt ist, dass es die Möglichkeit bietet, sich einen breiten Überblick über ein gesellschaftliches Randthema zu verschaffen. Mit unterschiedlichen Tragweiten und Grundlagen ist dies eines der wesentlichsten Attribute – im „Süden“ wie aber auch im „Norden“ – der Debatte über den Umgang mit Sexualität. Durch zahlreiche Beispiele eindringlich dargestellt, stellen sich die Informationsmöglichkeiten darüber in westlichen Gesellschaften beschränkter dar, als umgekehrt. Das hat weitreichende Folgen: Während sich beispielsweise ein männlicher junger Libanese durch das Internet selbst „aufklären“ kann und somit einen (unreflektierten, durchaus problematischen) Einblick in gelebte Sexualität anderswo bekommt, scheinen die Möglichkeiten sich über den Umgang mit Sexualität in arabischen Gesellschaften zu informieren aber nur bedingt möglich.
Sex und die Zitadelle schafft hier Abhilfe. Dadurch, dass Shereen El Feki Ehefrauen und -männer, StudentInnen, (LGBTQ-)AktivistInnen, Gelehrte, ÄrztInnen, KünstlerInnen, PsychologInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen zwischen Marokko und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu Wort kommen lässt, zeichnet sie ein umfassendes Bild mit notwendigen Querverweisen zwischen Recht, Wirtschaft, Religion und Tradition. Das Buch stellt eine überdachte und bunte Auseinandersetzung mit der Sexualkultur der arabischen Welt dar. Sachlich arbeitet Shereen El Feki auf knapp 400 Seiten Zusammenhänge zwischen Sex-Problemen verheirateter Paare in Kairo, eines von der Familie verstoßenen transsexuellen Algeriers, der-die in Beirut als Frau lebt und zwischen weiterreichenden Herausforderungen von Minderheiten im Allgemeinen und religiösen Quellen im Speziellen heraus.
Diese Buchrezension ist eine Leseempfehlung. Vor allem für all jene, die sich mit den Herausforderungen einer Region im Umbruch auseinandersetzen und sich fernab von orientalistisch Anmutendem à la Flaubert dem Umgang mit Sexualität in arabischen Ländern – heute und früher, als das Erotische durchaus positiv bewertet wurde – annähern wollen. Die jahrelange Recherche und die Position der Autorin am Rande einer Gesellschaft, die auch ihre ist – Tochter eines Ägypters und einer Waliserin, ermöglichten seltene Zugänge zu Stimmen jener, die an den Spitzen gesellschaftlicher Konflikte stehen, die Gleichstellung von Minderheiten fordern oder die patriarchal-konservativen Züge von Gesellschaften in Frage stellen. Es wird klar, dass die Revolutionen um Arbeitslosigkeit, fehlende Freiheiten, Korruption und andere Missstände Ausdruck von Verunsicherung und Zerrissenheit sind, die sich auch im Privatleben von Menschen niederschlägt.
Dennoch, oder vielmehr deshalb, können die einzelnen Stimmen in Sex und die Zitadelle nur individuelle Momentaufnahmen einer breiteren politischen Entwicklung in Ägypten sein. „Die Bereitschaft mit denjenigen zu sprechen und denjenigen zuzuhören, die nicht unbedingt den eigenen Standpunkt teilen wird von entscheidender Bedeutung sein” scheint für Shereen El Feki in Zukunft wesentlich. Damit verfällt sie nicht in den Ton, den externe Akteure als Aufruf zur Einmischung betrachten könnten. Ihre Botschaft ist klar: Länder im politischen Aufbruch werden ihren eigenen Weg gehen (müssen), ob im Parlament oder im Ehebett.