Als die Protestierenden am Sonntagabend die Lenin-Statue in Kiew demontierten, erreichten die Proteste gegen die Regierung Janukowitsch ihren symbolträchtigen Höhepunkt. “Hängt den Kommunisten!” wurde lauthals skandiert, ein ikonischer Moment wurde geschaffen. Symbolische Ereignisse wie diese sind wichtig für einen Fortbestand oder den Beginn von Protestbewegungen und schweißen heterogene Gruppen zusammen. Oftmals wird im Westen die Demontage der Lenin Skulptur als Akt einer demokratischen Befreiung aus einem (post)sowjetischen Würgegriff gefeiert. Dass dabei großteils Protagonisten der ukrainisch-nationalistischen und rechtsextremen Svoboda Partei involviert waren, findet lediglich in Nebensätzen Erwähnung. Zweifelsohne ist das Vorgehen der Regierung, insbesondere jenes der Sicherheitskräfte gegenüber den DemonstrantInnen zu verurteilen – dies attestiert auch Amnesty International.
Darüber hinaus jedoch ist die Einheit der ukrainischen Bevölkerung hinsichtlich der Proteste und einer europäischen Annäherung fragwürdig. Besonders im russisch-beeinflussten industriellen Osten – der Basis für Janukowitschs Macht – sind die öffentlichen Plätze auffallend ruhig, so etwa in der Industriestadt Donetsk. Die Bevölkerung der Ukraine ist gespalten zwischen einem Machtkampf der Europäischen Union und der Russischen Föderation. Ein Blick hinter die Kulissen eines aufgebauschten Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Demokratie und Despotie zeigt: Geopolitische Interessen spielen die Hauptrolle.
Gas Monopoly
Etwa 80 Prozent von Europas Erdgasversorgung stammen aus nur drei Ländern: Russland, Norwegen und Algerien. Die Abhängigkeit vom russischen Gaskonzern Gazprom ist evident und lässt in der Union immer wieder Stimmen nach Diversifizierung der Rohstoffversorgung laut werden. Eines dieser Diversifizierungsunternehmungen war das Nabucco-Projekt, unter Federführung der österreichischen OMV. Man versuchte Erdgas vom kaspischen Meer über die Türkei nach Baumgarten in Österreich zu transportieren. Darunter sollten auch Bestände aus Turkmenistan eingespeist werden, das 2013 von Human Rights Watch als eines der “repressivsten Regime weltweit” bezeichnet wurde. Menschenrechte dürften hier eine untergeordnete Rolle spielen. Der (nicht mehr ganz aktuelle) aber sehr empfehlenswerte Dokumentarfilm Gas Monopoly beschäftigt sich damit. [1. Nachdem sich das Konsortium, das für die Auftragsvergabe zuständig ist, im Juni gegen Nabucco und für die Konkurrenz “TAP-Trans Adriatic Pipeline” entschieden hat, dürfte Nabucco gestorben sein.]
[youtube https://www.youtube.com/watch?v=-FLGw3sjvss]
Ein Gutteil des russischen Erdgases wird über die Ukraine nach Europa – vornehmlich Südosteuropa – transportiert. Dies hat in den letzten Jahren immer wieder zu Verstimmungen und Preisstreitigkeiten zwischen der Ukraine und Russland geführt, denn die Ukraine ist selbst stark abhängig von russischen Gasimporten. Seit der letzten Gaskrise 2009 werden von Gazprom hohe Zahlungsforderungen an die ukrainische Regierung gestellt – quasi als Bestrafung für den Ungehorsam. Die massiven Preiserhöhungen und die Abgaben von 300 US-Dollar auf 1000 Kubikmeter Gas, verursachten einen Schuldzettel von über 30 Mrd. Euro bei Moskau. In der Ukraine lautet der Tenor daher auch: Diversifizierung. Deswegen bezieht man jüngst Erdgas aus Europa – vom deutschen Energiekonzern RWE. Laut Eigenangaben der Regierung Janukowitsch hat sich der Bezug russischen Erdgases zwischen 2010 und 2013 von 41 Mrd. Kubikmetern auf 27 Mrd. Kubikmeter verringert – mitunter durch die europäische Initiative. Erdgas fließt in der Ukraine von West nach Ost, von Ost nach West. Die EU und Russland buhlen energisch um ihren Einfluss in Kiew.
Spielball Ukraine: Assoziierungsabkommen oder Zollunion – EU oder Russland?
Während die Europäische Union lauthals gegen die russische Initiative wettert, versucht Russland eine Integration der Ukraine über eine Zollunion bzw. zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft zu erreichen. Geboten werden billiges Gas und offene Märkte. Es sieht so aus, als hätte Russland diesen Machtpoker gewonnen – was russisch-ukrainische Verhandlungen in Sochi bestätigen dürften. Man könnte somit behaupten, dass die Entscheidung Janukowitschs gegen das Assozierungsabkommen nicht nur einer unvernünftigen, anti-demokratischen Logik folgte, sondern durchaus auch von pragmatischer Ratio geprägt war, vor allem wenn man die in Aussicht gestellten Konzessionen betrachtet, etwa verbilligte Gaslieferungen oder zinsgünstige Darlehen.
Hat die EU zu hoch gepokert?
Im Gegensatz dazu liest sich das Assoziierungsabkommen mit der EU wie ein Forderungskatalog. Neben Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, sind es vor allem wirtschaftliche Liberalisierung – zumeist im Sinne einer einseitigen Marktöffnung für europäische Unternehmen, sowie eine engere militärische Zusammenarbeit über EU Multi-National Tactical Battle Groups, die die Inkorporation der ukrainischen Streitkräfte beinhaltet. Auch auf dem Energiesektor möchte man eine engere Zusammenarbeit mit der Union. Sämtliche Implikationen würden die Ukraine in die Interessensphäre der EU gleiten lassen, was Moskau naturgemäß zu verhindern trachtet. Offenbar waren die Zugeständnisse, sowie die ökonomischen Anreize zu gering, um sich von Russland – dem Versorger und Gläubiger – zu distanzieren. Eine Annäherung an die EU bedeutet also eine Abkehr von Russland und damit auch vom russischen Markt. Deswegen beklagte der ukrainische Vize-Regierungschef Sergej Arbusow, dass die EU sich weigere, Entschädigungen für eine Distanzierung vom russischen Markt zu leisten. Alles in allem entsteht also der Eindruck, als hätte die EU einfach die schlechteren Karten gehabt oder zu hoch gepokert.
Aus gegebenem Anlass:
Menschenrechte und Demokratie – Der Zuckerguss europäischer Interessenspolitk?
Es steht außer Frage, dass die Europäische Union in ihren Erklärungen ein klares Statement zu Menschenrechten ablegt, ebenso wie es schon auf die amerikanische Bill of Rights zutreffen mag. Dass diese Bekenntnisse aber nur bedingt Einfluss auf die realpolitische Sphäre haben sollte ebenso ersichtlich sein, denn: Die Europäische Union tritt vor allem dort als Blau-Goldener Ritter in schimmernder Rüstung auf, wo rein zufällig Interessen bestehen – man denke etwa an die Mali Intervention und der Sicherung französischer Uranbestände im Niger. Andererseits machten Vertreter des Nabucco Projekts – darunter Ex-Außenminister Joschka Fischer – keinen Hehl daraus, mit dem turkmenischen Regime zu kooperieren. Man könne sich schließlich die globale Ressourcenverteilung nicht aussuchen. (Wortlaut in der Dokumentation Gas Monopoly) Ebenso steht außer Frage, dass es sich sowohl bei Russland als auch der Ukraine nicht um “westliche Demokratien” handelt. Der ukrainische Politologe O. Fisun spricht in beiden Fällen von Neopatrimonialismus. [2. Fisun unterscheidet zudem zwischen oligarchischem (satrker politischer Wettbewerb) und bürokratischem (wenig politischer Pluralismus). Im Falle Russlands sei eine Transformation vom oligarchischen zum bürokratischen zu beobachten, in der Ukraine umgekehrt.]
Aber: das europäische Selbstbild nach außen widerspricht klar den Trends nach innen. Noch nie saß eine derart große Anzahl rechtsextremistischer Parteien in Europas Parlamenten, die europäische Solidarität, insbesondere das Vorbild des europäischen Wohlfahrtsstaates, schwindet seit den späten 1980er Jahren. Hingegen nimmt die harte Austeritätspolitik – insbesondere an der Peripherie Europas zu – nicht unbedingt ein Anreiz zur Assoziierung. Die europäischen “Werte” können auch nur dann effizient als Druckmittel nach außen angewandt werden, wenn sie im Inneren fortbestehen – und hier ist ein eindeutiger Verfall auszumachen.
Deswegen sei abschließend am heutigen Tag der Menschenrechte vor allem auf eine Gefahr verwiesen: Ehrlich währt am längsten. Denn eine Instrumentalisierung von Menschenrechten als leere diplomatische Worthülse ist nicht nur perfide, sondern auch wenig erfolgreich, wenn man die innereuropäischen Entwicklungen betrachtet. Der Konflikt EU-Ukraine-Russland verdeutlicht dies anschaulich.